Verbrechen der Kriegsendphase und wir heute

30. Oktober 2020

Ulrich Sander hat in diesem Jahr Vorträge zu seinem Buch „Mörderisches Finale“ – Zu den Kriegsendphasenverbrechen der Nazis 1945 – geplant, die in Essen, Dortmund, Penzberg und München stattfinden sollten. Sie konnten aus Corona-Gründen nicht stattfinden. Das für Penzberg geplante Manuskript wird hier wiedergegeben.

Die Lehren aus der Endphase des Krieges
Gedanken und Gedenken 75 Jahre danach

Über den NS-Reichsjugendführer Baldur von Schirach, in Nürnberg milde behandelt, obwohl die Todesstrafe verdienend, wurde nun eine Biografie geschrieben: Oliver Rathkolb „Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“, Molden Verlag. Süddeutsche Zeitung: 2.,3.,4. Oktober 2020:
Es wird darin ein Aspekt der Kriegsendphasenverbrechen behandelt: Die Mitwirkung der Jugend; bekannt u.a. als Verbrechen des Volkssturms und des Werwolfs. „Als Mobilisator einer auf den ‚Führer‘ eingeschworenen Jugend trug von Schirach, Rathkolb, eine wesentliche Mitverantwortung für die ‚Kamikaze-Kultur‘, aufgrund derer sich Hunderttausende junge Menschen mit falschem Heldenmut in den Tod stürzten – wie auch für die brutalen ‚Endzeit-Verbrechen‘, die verblendete Jugendliche in den letzten Wochen des Krieges begingen Diese Verantwortung sei in Nürnberg nicht ausreichend thematisiert worden.“ … „Dieser Mann hat eine ganze Generation auf die totale Loyalität gegenüber Hitler eingeschworen – und auf den totalen Krieg vorbereitet.“ Rathkolb lt SZ

Die Jugend speziell und die Endzeitverbrechen spielten in der Forschung lange Zeit keine kaum eine Rolle. Dem Volkssturm, der SS und der Gestapo waren die Verbrechen befohlen worden. Ihnen fielen noch in der Endphase des Krieges nicht nur in Gardelegen, sondern auch in der rheinischen Wenzelnbergschlucht, im oberbayerischen Penzberg, im Dortmunder Rombergpark und an mehr als 90 weiteren Orten sowie auf Todesmärschen Tausende Nazi-Gegner zum Opfer – während Nazi-Obere insgeheim mit dem Westen über eine Fortsetzung des Krieges gegen die Sowjetunion verhandelten. Die Nazis fürchteten, den Antifaschisten könne es gelingen, durch gemeinsames Handeln die Früchte des Sieges über den Faschismus für eine Zukunft in Frieden und Demokratie zu sichern und den Nazismus »mit der Wurzel« zu beseitigen, wie es Buchenwaldhäftlinge bei der Befreiung geschworen hatten.
Pläne für die Zeit nach der Niederlage hatten die Wirtschaftseliten und die SS, – aber auch die Antifaschisten. Ja, sie sehnten sich nach dem Zuhause. Sie sehnten sich nach einem Deutschland des Friedens, nach einem Leben ohne faschistische Unterdrückung. Das einte die deutschen wie die ausländischen Opfer.
Doch die Täter hatten ganz andere Pläne. Ob Hitler stets davon wusste? Das war Ende 1944, Anfang 1945 schon nicht mehr wichtig. Ein Geheimagent der US-Army hat im Herbst 1944 notiert:
»Ein Treffen der wichtigsten deutschen Industriellen, die in Frankreich Interessen haben, fand am 10. August 1944 im Hotel Rotes Haus in Strasbourg (Frankreich) statt.« Man beschloss im Beisein von Vertretern der SS Maßnahmen, »so dass ein starkes deutsches Reich nach der Niederlage geschaffen werden könne.« Die »Partei« müsse stark gemacht werden, »die Macht in Deutschland wieder zu übernehmen«, berichtete der US-Agent am 7. 11. 1944 an das State Department.
An dem Treffen im Hotel Maison Rouge (Rotes Haus) nahmen Konzernvertreter aus dem »Freundeskreises SS«, aus Firmen wie Krupp, IG Farben, Messerschmidt, Siemens, Daimler Benz, AEG, Flick AG, Dr. Oetker, Wintershall/Quandt und Bosch teil, so berichtet Heinz Bergschicker in »Deutsche Chronik 1933-1945« (Berlin/DDR 1982; siehe dazu in diesem Buch »Motiv für den Massenmord: Ökonomische Interessen«).

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In einigen Orten, Dortmund, Penzberg, Wenzelnberg/Solingen, begann die Erinnerungsarbeit bereits seit den sechziger Jahren, so mit Gedenkkundgebungen und Kranzniederlegungen. In diesen Orten entstanden auch erste Bücher über jene Zeit.

Eine Verallgemeinerung begann erst mit unseren Treffen zum 60. Jahrestag der Kriegsendphasenverbrechen. Aus 30 Orten kamen am 24. März 2005 die Vertreter ins Rathaus von Dortmund und tauschten Informationen aus. Es entstand die Idee zu einem Buch, das dann unter dem Titel „Mörderisches Finale“ erschien. In diesen Tagen ist es nun neu herausgekommen. Der Förderverein Steinwache / Internationales Rombergparkkomitee und die Dortmunder VVN-BdA haben über das Kriegsende dieses ihr Buch „Mörderisches Finale – NS-Verbrechen bei Kriegsende“ in einer erweiterten Ausgabe neu herausgegeben (bei PapyRossa). Es galt, das Unwissen über die Tage vor und nach dem 8. Mai zu bekämpfen.
Ich habe es von historisch wissenschaftlicher Seite vor Jahren in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ (Nr. 10/2008)“ bestätigt bekommen, dass das Buch von Ulrich Sander „Mörderisches Finale“ in Folge ML zwar Mängel hat, aber bisher einmalig ist. Denn „fanden diese Untaten der Nationalsozialisten bislang noch keine größere Aufmerksamkeit“. Und „dem Autor Ulrich Sander kommt möglicherweise das Verdienst zu, an bislang noch nicht ausreichend untersuchte NS-Verbrechen gegen Kriegsende erinnert zu haben“. Als nun die Erweiterung des Buches erschien, konnte seine Präsentation nicht in Essen stattfinden, mein vorgesehenes Referat erschien im 8.Mai-Heft der MB. Auch andere Buchpräsentationen fielen wegen Corona aus. Nun soll hier wenigstens ein Referat vorgelegt werden, das ich in Penzberg und München im November gehalten hätte. Wenn es möglich gewesen wäre.

Liebe Freundinnen und Freunde,
ich danke dafür, dass ich zu Euch an diesem 8. Mai bzw. an einem anderen Gedenktag zum Jahr 1945 sprechen darf. So wollte ich meine Rede beginnen. Nun mache ich es schriftlich – denn unsere Kundgebung muss ja leider ausfallen.

Der 8. Mai 1945 war für alle vernünftigen Menschen der Tag der Befreiung, und sie hatten Grund zu feiern. Doch noch heute sagen viele Leute Zusammenbruch, Kapitulation, Niederlage, wenn sie den 8. Mai meinen. Und das stimmt für diese Leute ja auch. Jedenfalls war der 8. Mai keine Stunde null. Denn viele, die noch im Frühjahr den Nazi folgten, haben sich offensichtlich nicht geändert.

Furchtbare Verbrechen geschahen noch in den letzten Wochen vor Kriegsende. Der 19-jährige Wehrmachtsgefreite Willi Herold hat sich mit einer Hauptmannsuniform bekleidet, ist in das mit etwa 3000 Gefangenen überbelegte Emscher-KZ Aschendorfer Moor eingedrungen und hat das »Kommando« übernommen. Er und seine kleine, aus versprengten Soldaten gebildete Einheit ermordeten in den nächsten Tagen ab dem 11. April Hunderte Gefangene. Einheiten wie diese gab es Hunderte, viele haben sich als „Standgerichte“ formiert und bringen schätzungsweise 8000 „Desserteure“ um.

Die genaue Anzahl der auf den Todesmärschen und bei den zahlreichen weiteren Kriegsendverbrechen zu Tode gekommenen Menschen ist nicht bekannt. Die Schätzungen dazu bewegen sich weit auseinander. Am 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, am 27. Januar 2005, führte Prof. Arno Lustiger im Deutschen Bundestag aus: »Zwischen November 1944 und Mai 1945 wurden etwa 700.000 Häftlinge, 200.000 von ihnen Juden, bei der Räumung und Liquidierung der KZs in Polen und Deutschland, auf etwa hundert Todesmärsche durch ganz Deutschland getrieben. Es wird geschätzt, dass über die Hälfte von ihnen umgekommen ist. Sie wurden erschossen, in Scheunen verbrannt, sind verhungert oder an Seuchen verstorben. Bis heute gibt es keine Gesamtdarstellung dieser sich auf Deutschlands Straßen abspielenden tausendfachen Tragödien, dieser letzten Konvulsionen des untergehenden Dritten Reiches.“

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Heute wissen wir: Die Erinnerungsarbeit der Opferverbände zu diesen Kriegsendverbrechen, auch der VVN, setzte früh ein, jene der Behörden und Bildungseinrichtungen sehr spät. In beiden deutschen Staaten blieb die Mitschuld der kleinen Leute zumeist unbeachtet. In der Erinnerungsarbeit an die Todesmärsche lag allerdings die DDR vorn, das geht aus den Büchern zu den letzten Kriegsmonaten hervor.

Allerdings ist sehr lange unbekannt geblieben, in beiden deutschen Staaten, dass es die Mitschuld vieler „guter“ Deutscher an den Kriegsverbrechen gab. Es lag die Furcht vor dem vor, was ein Wilhelm Brinkmann aus Dortmund-Aplerbeck geschrieben hat. Er berichtete seiner Frau im April 1944 von der „Partisanenjagd“ und vom Verschleppen von Zivilisten. „Ich habe viel Elend und manche Träne gesehen. Wenn der Krieg verloren gehen sollte, dann sehe ich sehr schwarz, denn die anderen machen es ebenso.“ Es waren unsere lieben Nachbarn, von denen viele von der Frage getrieben handelten: Wenn die ehemaligen Gefangenen nun uns das antun, was wir ihnen und ihren Landsleuten antaten – dann gnade uns Gott.
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Im April 1945 besetzen Briten und US-Amerikaner das heutige Niedersachsen und das heutige Nordrhein-Westfalen. Sie kamen oft kommen zu spät; unzählige Häftlinge und Zwangsarbeiter sind zuvor von der Gestapo ermordet worden. Die Nazis befürchteten einen Aufstand der Linken und der Ausländer, und dem wollten sie zuvorkommen.

Nachdem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands erfolgt war, nahmen in den Städten oftmals Sozialdemokraten, Kommunisten und parteilose Arbeiter als Mitglieder antifaschistischer Bündnisse ihre Arbeit auf. Es waren die Männer und Frauen „der ersten Stunde“. Doch sie waren nicht wohl gelitten. Schon am 18. Mai 1945 wurden z.B. „Bekanntmachungen für Groß-Dortmund“ herausgegeben. Die Militär-Regierung der Besatzungsmächte gab bekannt: „Antifa – Diese Organisation ist gesetzwidrig und verboten. Sie hat keine Berechtigung, Verordnungen zu erlassen, Versammlungen abzuhalten, Gelder einzuziehen oder Mitglieder anzuwerben.“ Doch die SPD und KPD warteten weiter auf ihre Zulassung. Einzelne ihrer Mitglieder wurden in den Vorstädten vorübergehend Bezirksbürgermeister. Von Anfang an wurden Antifaschisten von Ämtern ferngehalten, und alte Nazis bekamen eine neue Perspektive.

Der „Führer“ sah es voraus. Adolf Hitler hat in seinem Testament vom 29. April 1945 kurz vor seinem Selbstmord das „Opfer unserer Soldaten“ als Kraftquell dafür bezeichnet, dass „in der deutschen Geschichte so oder so einmal wieder der Samen aufgehen (wird) zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und damit zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft.“ Josef Goebbels, der NS-Propaganda-Chef, wusste gar, wann das sein wird. Er schrieb am 25. April 1945 in sein Tagebuch für die Zeit eines bolschewistischen Sieges: „…in fünf Jahren spätestens wäre der Führer eine legendäre Persönlichkeit und der Nationalsozialismus ein Mythos.“

Schon nach dem ersten Weltkrieg schrieb Erich Kästner: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten / zum Glück gewannen wir ihn nicht.“ Das gilt auch für den zweiten Weltkrieg. Der wurde aber offenbar nicht mit einer wirklich immer währenden Niederlage Deutschlands beendet. Der „Samen“ (Hitler) und „Mythos“ (Goebbels) wird heute wieder beschworen. Der faschistische Führer der AfD Björn Höcke sieht bereits das Feuer des Faschismus sich neu entfachen: „Wir werden auf jeden Fall alles tun, um aus dieser Lebensglut, die sich unter vierzig Jahren kommunistischer Bevormundung erhalten hat und der auch der scharfe Wind des nachfolgenden kapitalistischen Umbaus nichts anhaben konnte, wieder ein lebendiges Feuer hervorschlagen zu lassen.“ (lt. Süddeutsche Zeitung, 27. März 2020) Nicht so salbungsvoll hatten sich – siehe oben – im Herbst 1944 die Vertreter der SS und großer Konzerne auf einem Geheimtreffen in Straßburg ausgedrückt: Wir legen eine Kasse an, damit die Fortführung der Nazi-Partei eine Perspektive hat. Julius Mader: „Der Banditenschatz“, Berlin 1966) Noch reicht Höcke nicht der Deutschen Bank und Rheinmetall die Hand – oder umgekehrt. Doch wenn die umfassende Krise anders nicht überwunden werden kann, ist auch das Bündnis der ökonomischen Eliten mit den Rechtsaußen wieder denkbar. Einer der reichsten Männer Deutschlands, Finckh, hat bereits Geld für die AfD bereitgestellt.
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Was steht diesem „lebendigen Feuer“ Höckes entgegen? Hoffentlich vieles. Der drohenden Brandstiftung von rechts muss begegnet werden. Allerdings sind die demokratischen Feuerwehren zu Zeit geschwächt, und niemand weiß, wie es wirklich weitergehen soll. Die Corona-Krise ist das alles überlagernde Problem. Und dass sie zusammenfällt mit einer tiefgehenden ökonomischen Krise, die nicht nur Corona geschuldet ist, mit der weltweiten Energiekrise und Klimakrise und der Krise der internationalen Beziehungen mit ihren drohenden Kriegsgefahren und der Migrationsfrage, das macht ein ungeheures Konglomerat von Gefahrenquellen aus. Da lohnt es sich, auf die Zeit zwischen den Weltkriegen zurückzublicken.

Wann war der Zweite Weltkrieg unaufhaltbar? Er war unaufhaltbar, als Hitlerdeutschland sich stark genug sah, die Welt in Brand zu setzen. Aber wann war die Macht der deutschen Faschisten aufhaltbar? Erich Kästner sagte am 10. Mai 1958 in Hamburg bei der Tagung des PEN Deutschland: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.“

Ich würde das Datum, da der Schneeball zu rollen begann, aber doch noch aufhaltbar war, und zwar durch eine kluge, hellwache demokratische Gesellschaft, die es in den zwanziger Jahren jedoch nicht gab, auf den Tag ansetzen, der kein Wahltag, sondern ein Zahltag war. Es war spätestens der Tag, da Vertreter der ökonomischen Eliten sich mit Hitler verbanden. Sehr früh waren Thyssen und Vögler dabei. Noch früher Emil Kirdorf. Der führende Industrielle der Kohle- und Stahlindustrie traf am 27. April 1927 mit Hitler zusammen, dieser referierte ihm sein Programm und Kirdorf zahlte eine dicke Spende, vor allem aber verbreitete er Hitlers interne Denkschrift „Der Weg zum Wideraufstieg“ unter den Industriellen und warb unter ihnen für die Nazis. Fünf Jahre später beim Industrieellentreffen im Düsseldorfer Industrieclub, da war das Bündnis perfekt. Das Programm der Nazis „Vernichtung des Marxismus“ und Wiederaufstieg mit militärischen Mitteln, das passte den Herren.
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Viele von uns sind vorbildlich im Gedenken an die Opfer – ich nenne die regelmäßigen Gedenkkundgebungen an den Stätten des ehemaligen faschistischen Grauens wie hier. Ich denke an die Stolpersteine. Doch dem steht entgegen die Verweigerung der Mahnung vor den Tätern, den Tätern aus den ökonomischen Eliten, die es neben den Militaristen, Junkern. bürgerlichen Völkischen und rechten Konservativen gab.

Hier äußert sich die Scheu, die kapitalistischen Schuldigen beim Namen zu nennen. Die Scheu vor der Kapitalismuskritik. Diese ist aber unerlässlich.

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Was tun in der heutigen Krise?
Man hat die gegenwärtige tiefe Krise als die schwerste seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Die Kanzlerin selbst gab diese Einschätzung heraus. Da sind wir gut beraten nachzuschauen, was nach 1945 zur Überwindung der Krisenfolgen ausgesagt und getan wurde. Die Kanzlerpartei CDU schrieb in ihr erstes Parteiprogramm, das Ahlener Programm vom Februar 1947: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“. An die Stelle des Kapitalismus gelte es, „eine gemeinwirtschaftliche Ordnung“ zu setzen. „Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muss davon ausgehen, daß die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist.“ Ähnliche Aussagen aus jener Zeit sind von der SPD überliefert. Und von der KPD.

Ich bin sicher, dass die Mehrzahl der Bürger, vielleicht auch der christlich-sozialen, nach dieser größten Krise seit 1945 zu ähnlichen Schlüssen kommen sollte: Der Kapitalismus wird den Lebensinteressen der Menschen nicht gerecht.
Auf Schildern, die zum Lobe der Angehörigen des Gesundheitswesens von Balkonen gezeigt wurden, stand nunmehr ganz schlicht: Die Krankenschwestern und –pfleger nicht nur loben, sondern besser bezahlen! Und der Wirtschaftsminister sagte in einer Talkrunde: Wir werden nicht umhin kommen, als Staat Teile der Wirtschaft aufzukaufen.

Prof. Uli Paetzel, Chef von Emschergenossenschaft und Lippeverband, sagte der Westfälischen Rundschau am 15. April 2020: „Bestimmte Felder der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen wir nicht dem Markt überlassen. Das wird eine der entscheidenden Lehren aus der Corona-Krise sein.“ Ja, es muss nichtkapitalistische Lösungen geben. Es muss planwirtschaftliche Lösungen geben. Paetzel fordert einen regelrechten „Infrastruktur-Sozialismus“, so im Gesundheitswesen, bei der Wasserwirtschaft, auf dem Energiesektor, dem Mobilitäts- und Verkehrssektor und bei der Digitalisierung, – und ich füge hinzu: weitestgehend auch in der Wohnungswirtschaft. Die Losung „Privat vor Staat“ wird wohl bald niemand mehr in den Mund nehmen. Das hoffe ich.

Im Godesberger SPD-Programm vom November 1959 stand (und das nahm Abschied vom Sozialismus): Soviel Plan wie nötig, soviel Markt wie möglich. Doch die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln blieb unbeantwortet. Die DGB-Gewerkschaften stellten in ihrer Programmatik fest: Es erfolgte die Wiederherstellung der alten Besitz- und Machtverhältnisse. Weshalb die Veränderung dieser Verhältnisse stets in der gewerkschaftlichen Programmatik Bestand hatte. Und es gab keine Bundes- oder Landesverfassung, die nicht Sozialisierungs- und Antikriegsaussagen trafen.

Welche Schlüsse auch immer nach der Krise gezogen werden: Das antikapitalistische Denkverbot muss beseitigt werden. Schluss mit den Denkverboten, die von den Herrschenden – und hier besonders von den Verfassungsschutzämtern – verordnet werden. Der bayerische Verfassungsschutz schwingt sich zu einem verfassungsgebenden Verein auf, und manche Finanzämter in ganz Deutschland folgen ihm und verweigern Antifaschisten die Förderungswürdigkeit und Gemeinnützigkeit, weil sie den Kapitalismus in Frage stellten, der wider besseres Wissen zum Bestandteil des Grundgesetzes umgefälscht wird. Wir sagen: Der Kapitalismus muss nicht zum Faschismus führen, aber bei uns ist es geschehen, und es kann wieder geschehen. Dagegen wappnen wir uns, indem wir alle Grund- und Menschenrechte verteidigen, die Demokratie und den Frieden.
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Das Vermächtnis des Widerstandes sollte uns Verpflichtung sein. Es wird im Schwur der Häftlinge von Buchenwald ausgedrückt: Den „Kampf erst einzustellen, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht“ – also auch die Verantwortlichen aus der Industrie. „ Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung“ – also auch der ökonomischen Wurzeln und der ideologischen und militärischen. „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Das bedeutet: Klassenkämpfe von unten sind zu führen. Arbeiterrechte müssen bewahrt werden. Das Recht auf Arbeit, auch auf wirksame Mitbestimmung ist unabdingbar.
Der Kapitalismus muss nicht zum Faschismus führen, aber bei uns ist es vor rund 100 Jahren geschehen. Und es kann wieder geschehen. Daher müssen wir nach der Krise besonders wachsam sein.

Literatur

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Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock e.V., Hg.: »Das Lager 326«, Augenzeugenberichte Fotos Dokumente, Porta Westfalica 1988

Aslanow, Anatolij: »Von der Wolga an die Ruhr«. Begegnungen mit Deutschen in Krieg und Frieden, Köln 1987

Asshoff ,Wolfgang: »Die Dortmunder Bittermark und ihr Mahnmal«, Dortmund 1988

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Bergschicker, Heinz: »Deutsche Chronik« 1933-1945, Verlag der Nation, Berlin 1982

Blatmann, Daniel: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des Nationalsozialistischen Massenmordes, Hamburg 2011

Breidenbach, Armin: »Antifaschistischer Widerstand im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen 1933-1945 – Der Massenmord in der Wenzelnbergschlucht am 13. April 1945«, Hg. Die Grünen, Kreisverband Remscheid, 1992

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Dahlen, Hans von: »Todesmarsch 1945«, Sachsenhausenheft Nr 4, Dortmund 1967

DifZ: »Der Arnsberger Mordprozess«, herausgegeben vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte, 4. März 1957

Drobisch, Klaus: Vortrag gehalten am 16, April 1981 in Dortmund, zum Thema: »Amoklauf oder gezielter Mord? Zu den Hintergründen der Dortmunder Massenverbrechen im Frühjahr 1945« (als Manuskript gedruckt)

IG Metall Lippstadt (Hg.): »Der Gedenkstein an der Unionstrasse«, Lippstadt 1995

Junge, Lore: »Mit Stacheldraht gefesselt« – Die Rombergparkmorde Opfer und Täter, Ruhr Echo Verlag, Bochum 1999

Lotfi, Gabriele: »KZ der Gestapo« Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart/München, 2000

Nordhoff, Uwe u.a.: »Nur Gott der Herr kennt ihre Namen. KZ-Züge auf der Heidebahn«, mit einem Vorwort von Heinrich Albertz; Verlag Schulze, Soltau, 1992

Opitz, Reinhard: »Faschismus und Neofaschismus«, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt am Main 1984

Primavesi, Alexander: Artikelserie »Geschichte der Dortmunder Gestapo« (aus der Forschungsarbeit Alexander Primavesis) in »Ruhrnachrichten«, März/April 1994, letzte Folge 1. 4. 1994

Sander, Ulrich: »Mord im Rombergpark«, Tatsachenbericht, Hg. Internationales Rombergpark-Komitee , 1993

Sander, Ulrich: Mörderisches Finale. NS-Verbrechen bei Kriegsende (hrsg. vom Internationalen Rombergparkkomitee). Papyrossa Verlag, Köln 2008 und 2020, ISBN 978-3-89438-388-6.
Schwarberg, Günther: »Meine zwanzig Kinder« – über die Kinder vom Bullenhuser Damm, Steidl Verlag, Göttingen 1996

Stadtarchiv Dortmund: »Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945«, Katalog zur ständigen Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, Dortmund 1992

Stöcker, Rainer: »Tatort Hagen 1933-1945«, Klartext Verlag, Essen 1993

https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/der-club-der-reichen-und-superreichen-ist-gr%C3%B6%C3%9Fer-geworden/ar-BB16vWvX?ocid=msedgdhp