Gedenkveranstaltung zum 81. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, Westfalenhallen Dortmund
22. Juni 2022
Wir dokumentieren die Rede von Joachim Schramm, DFG-VK.
Liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,
heute vor 81 Jahren startete der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Das sogenannte Unternehmen Barbarossa war von langer Hand vorbereitet und sollte den „jüdischen Bolschewismus“ vernichten, die „slawischen Untermenschen“, wie es im Jargon der Nazis hieß. Hannelore Tölke hat dazu gerade einiges gesagt.
Die sowjetischen Menschen starben nicht nur fern im Osten, sie starben hier in Deutschland, auch in Dortmund. Auf 27 Friedhöfen in Dortmund finden sich Gräber sowjetischer Bürger, die größte Grabstätte für sowjetische Opfer ist der internationale Friedhof am Rennweg, der auch einer der größten Grabstätten in ganz Nordrhein-Westfalen ist. An den Grabstätten und auf den Gedenksteinen findet man zwar Zahlen über die Menge der Opfer, kaum aber Namen der Menschen, die hier litten oder begraben liegen. Daran hatte lange niemand Interesse.
Lange Zeit wurden die an den sowjetischen Menschen verübten Verbrechen verschleiert, die Grabstätten in unserem Land versanken häufig in Vergessenheit. Im Zuge des Kalten Krieges wurden die unvorstellbaren Verbrechen der Wehrmacht und der SS in der Sowjetunion verdrängt. Erst nach Ende des Kalten Krieges räumte vor allem die Wehrmachtsausstellung mit dem Mythos der sauberen Armee auf und thematisierte das Ausmaß der vor allem in der Sowjetunion begangenen Verbrechen.
Die Erinnerung an diese an den Menschen der Sowjetunion begangene Verbrechen war vielfach auch die Motivation, mit der ab Anfang der 90er Jahre Städtepartnerschaften zwischen deutschen Städten und Städten der ehemaligen Sowjetunion entstanden, so auch 1992 zwischen Dortmund und Rostow am Don in Russland. Auch ich war Ende der 80er Jahre in die Anbahnung einer solchen Städtepartnerschaft eingebunden und besuchte die Stadt Kursk. Sie war 1943 Schauplatz einer entscheidenden Panzerschlacht im zweiten Weltkrieg, der Schlacht am Kursker Bogen. Wir trafen dort Menschen, die uns freundlich begrüßten, sich für uns interessierten. Und dann sollte es ein Treffen mit sowjetischen Kriegsveteranen geben. Uns allen war wohl mulmig zumute, wir als Kinder und Enkel der Männer, die so großes Leid über dieses Land und diese Stadt gebracht hatten. Die Veteranen kamen in ihren alten Uniformen, die Brust mit Orden geschmückt. Und sie sprachen nicht von erlittenem Leid und von Rache, sie sprachen von Frieden und das man zusammen die Zukunft gestalten müsse. Und sie nahmen unsere Friedensbuttons und hefteten sie sich an die Brust, neben ihre Weltkriegsorden. An all diese Menschen, die den Faschismus besiegt und unser Land mit befreit haben, denken wir an diesem 22. Juni!
Nicht nur wir hofften Anfang der 90er Jahre auf ein neues Verhältnis zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Auch die Menschen dort hofften auf ein neues, vertrauensvolles Zusammenleben im gemeinsamen Haus Europa. Und das schien ja auf einem guten Wege. Es ist eine zwar nicht schriftlich fixierte aber glaubwürdig bestätigte Tatsache, dass in den 2+4 Verhandlungen zur deutschen Vereinigung der Sowjetunion versichert wurde, die NATO werde sich nicht weiter nach Osten ausdehnen. Doch dann hielt sich die NATO nach Auflösung der Sowjetunion schon bald nicht mehr daran. Nach und nach wurden zunächst die ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages in das verbliebene Militärbündnis aufgenommen, dann auch ehemalige Sowjetrepubliken. Bald trennten nur noch die drei ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Weißrussland und Ukraine das hochgerüstet Militärbündnis NATO von Russland. Ist es so abwegig, dass diese Entwicklung in Russland als Bedrohung angesehen wurde, auch angesichts der Erfahrungen, die man dort vor 80 Jahren gemacht hatte? Der US-Diplomat und erfahrene Osteuropa-Kenner George F. Kennan sah das so und schrieb bereits 1997 in der New York Times: „Es wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik in der Zeit nach dem Kalten Krieg, die NATO bis zu den Grenzen Russlands auszuweiten.“
Das ist keine Entschuldigung für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der seit dem 24. Februar tobt und bereits zehntausende Opfer gefordert hat. Aber wenn man über die Ursachen dieses Krieges nachdenkt, muss man diese Dinge mit im Auge behalten. Wenn wir in den vergangenen Jahren an die sowjetischen Opfer des II. Weltkrieges gedacht haben, dann haben wir dabei immer an alle gedacht, egal ob sie aus Russland, Weißrussland, der Ukraine oder anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion kamen. Und das sollten wir auch so beibehalten. Hannelore Tölke hat es angesprochen, vor einem Jahr waren wir mit unserer FriedensFahrradtour hier an dieser Stelle und haben der Toten gedacht. Und wir haben uns nicht vorstellen können, dass ein Jahr später die Nachfahren der Männer und Frauen, die hier gemeinsam gelitten haben, gegeneinander Krieg führen würden. Dass heute in der Ukraine Menschen sterben, die den Vernichtungskrieg der Nazis oder die Lager überlebt haben, ist ein großes Unglück und zeigt die Unsinnigkeit des Krieges in seinem ganzen Ausmaß. Und dass Russland den Angriff auf die Ukraine mit dem angeblich notwendigen Kampf gegen dortige Faschisten rechtfertigt, muss den Angehörigen dieser jetzt gestorbenen Menschen wie Hohn vorkommen. Dieser Krieg muss beendet werden, je eher desto besser!
Zu Recht wird davon gesprochen, Deutschland habe angesichts seiner Geschichte eine besondere Verantwortung. Diese gilt gegenüber Israel, aber sie muss auch gegenüber den Menschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gelten. Wir als Deutsche, als deutscher Staat sollten eine besondere Verantwortung gegenüber den Menschen in der Ukraine, in Weißrussland und in Russland übernehmen. Und diese besondere Verantwortung muss doch darin bestehen, das Leben der Menschen zu bewahren, das Töten in diesem schlimmen Krieg zu beenden, einen Krieg zu beenden, der weite Teile der Ukraine in Schutt und Asche legt und Tag für Tag hunderte Zivilisten und Soldaten das Leben kostet. Zu diesem Töten tragen auch die Waffen bei, die aus unserem Land an die Ukraine geliefert werden. Die Zahlen der Opfer schwanken, aber man kann von mindestens 50.000 Toten seit Februar ausgehen, darunter ein hoher Anteil an Zivilisten. Trotzdem hören wir in diesen Wochen leider meistens nicht die Stimmen des Friedens. Wir hören die Stimmen, die vom notwendigen Sieg der Ukraine sprechen, wie von unserer Außenministerin, vom noch Jahre dauernden Krieg, wie vom NATO-Generalsekretär Stoltenberg oder sogar davon, dass NATO-Staaten direkt in den Kampf eingreifen müssten, wie sich der Chef des britischen Generalstabs Anfang dieser Woche äußerte. Diesen Politikern und Militärs sagen wir: dieser Krieg wird keine Sieger kennen sondern immer mehr Verlierer, je länger er dauert. Die wachsenden Spannungen um die Enklave Kaliningrad machen deutlich, dass dieser Kriege auch jederzeit weiter eskalieren kann. Wir brauchen Frieden, nicht militärisches Wortgeklingel.
Heute, am 22. Juni wäre es der passende Tag für deutsche Politiker, für unsere Regierung, sich der eigentlichen Verantwortung gegenüber allen Menschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bewusst zu werden und eine Friedensoffensive zu starten. Deutlich zu machen, dass wir nicht auf den Sieg einer der beiden Seiten setzen, dass uns das Leben der Menschen am wichtigsten ist und nicht abstrakte Werte und Aussagen wie „es darf keinen Diktatfrieden geben“, wie „wir wollen alles zurück haben, was uns gehört“. Zwischen der aus Russland zu hörenden Position, die Ukraine sei eigentlich kein eigenständiger Staat und der ukrainischen Position, man wolle alle Gebiete zurückerobern, gibt es Zwischenpositionen. Diese auszuloten und alle diplomatischen Kräfte zu bemühen, sie auf dem Verhandlungswege zu erreichen, dass wäre eine lohnenswerte Aufgabe für die deutsche Regierung. Dabei kann unsere Regierung nicht selbst der Vermittler sein, aber sie könnte solche Vermittler suchen, diese unterstützen und so den Weg zum Frieden in der Ukraine zu öffnen. Dazu rufen wir auf, heute an diesem 22. Juni 2022.
Denn, auch wenn das viele heute nicht gerne hören, wir können uns kein Europa der Konfrontation auf Dauer leisten. Wir sehen in diesen Tagen, wohin diese Konfrontation führt. CO2-schleudernde Kohlkraftwerke werden reaktiviert, es wird über die Verlängerung der Atomkraft nachgedacht, der teuersten und gefährlichsten Energiequelle. Wie soll dem Klimawandel Einhalt geboten werden, das Ziel des Stopps der Erderwärmung erreicht werden, wenn wir das nicht einmal in Europa gemeinsam auf den Weg bringen, sondern uns in Kriege und Konflikte verstricken. Es wird keine Friedensordnung in Europa geben ohne das atomar bewaffnete Riesenland Russland. Wie soll der Klimawandel gestoppt werden, wenn ein isoliertes Russland weiter seine Reserven an Kohle und Gas verfeuert, statt mit westlicher Hilfe erneuerbare Energien stärkt. In Sibirien tauen die Permafrostböden auf und verströmen klimaschädliches Methangas. Geht uns das nichts an, weil das ja dann in einem isolierten Russland passiert? Das können wir uns und unserer Jugend nicht zumuten!
Auch wenn unser Gerechtigkeitsgefühl sagt, wir dürfen eine Aggression wie die russische gegen die Ukraine nicht einfach akzeptieren, muss unser Vernunft sagen, dass wir nicht mehr Waffen und mehr Konfrontation in Europa brauchen, sondern Gespräche, Verhandlungen und Verträge, die mehr Sicherheit in Europa schaffen, aber auch den Weg öffnen können für mehr demokratische Entwicklung. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik. Wir brauchen das gemeinsame Haus Europa, zu dem auch Russland gehört!
Ein Weg dahin könnte die Wiederbelebung der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sein, in der alle beteiligten Staaten Mitglied sind. Eine wichtige Basis für eine Entspannungspolitik, für ein respektvolles Miteinander, ist auch der wirtschaftliche Austausch. Der wird jedoch plötzlich nicht mehr als Chance gesehen sondern nur noch als Gefahr der möglichen Erpressung. Wollen wir wieder zurück in ein System autarker Nationalstaaten? Das kann nicht die Lösung sein.
Und auch der zivilgesellschaftliche Austausch, die Kontakte von Mensch zu Mensch sind das Fundament, um Feinbilder abzubauen und Verständnis füreinander zu entwickeln, aber auch voneinander zu lernen. Städtepartnerschafen sind Beispiele für einen solchen Austausch. Hierzu zählt aber auch die Übernahme von Verantwortung z.B. für die wenigen noch Lebenden der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter bzw. deren Nachkommen in Form von finanziellen Leistungen durch den deutschen Staat, die es bisher nur in unzureichendem Maße gegeben hat. Dazu bedarf es neuer Kontakte nicht nur mit der Ukraine sondern auch mit Russland und Weißrussland. Das sollte unsere Regierung, aber auch wir alle im Blick haben, auch wenn es angesichts des aktuellen Krieges vielen schwer fällt. Das gehört zu unserer Verantwortung, Verantwortung für das, was in deutschem Namen vor achtzig Jahren an Verbrechen verübt wurde. und was am 22. Juni 1941 begann!