„Das ist die Nuss, die wir zu knacken haben“
8. Dezember 2019
Rede von Silvia Rölle, Landessprecherin der VVN-BdA Landesvereinigung NRW e.V., anlässlich des Landesparteitages der Linken, 30.11.2019 in Bielefeld
Liebe Freundinnen und Freunde!
Ich bin gebeten worden, im Hinblick auf die anstehenden Kommunalwahlen etwas zur Rechtsentwicklung zu sagen. Erlaubt mir zuvor einige Worte in eigener Sache:
Ich zitiere Esther Bejarano:
„Für uns Überlebende (der Shoa) ist es unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt, wenn jüdische Menschen und Synagogen angegriffen werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren und extreme Rechte nicht mal mehr vor Angriffen gegen Vertreter des Staates zurückschrecken.
Wohin steuert die Bundesrepublik?
Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr (VVN) aus!, wollen der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen? Diese Abwertung unserer Arbeit ist eine Kränkung für uns alle.“
Esther Bejarano (unsere Ehrenvorsitzende und Vorsitzende des Ausschwitzkomitees) sah sich genötigt, sich mit diesen deutlichen Worten an den Finanzminister Scholz zu wenden. Hintergrund ist die Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Bundesvereinigung der VVN-BdA durch das Finanzamt Berlin. Das Berliner Amt beruft sich ausschließlich auf die Erwähnung VVN-BdA im bayrischen Verfassungsschutzbericht. Dort wird sie wiederholt als linksextremistisch beeinflusst dargestellt.
Laut bayrischem Gerichtshof stellt dies keine Tatsachenbehauptung dar.
Dennoch: Der Berliner Finanzbehörde reicht die bloße die Erwähnung im Bericht des bayerischen Verfassungsschutz für die Aberkennung der Gemeinnützigkeit.
Ist es wieder soweit, dass Gerüchte über das Wohl und Wehe eine Organisation entscheidend sind?
Der Protest im Lande und auch international ist groß. Täglich erreichen uns Anrufe, Mails und Solidaritätsbekundungen.
Mehrere hundert Menschen haben seit Bekanntwerden der Entscheidung der Finanzbehörde ihre Mitgliedschaft in der VVN -BdA beantragt.
Vorgestern erreichte mich ein Anruf einer älteren Dame des bundesweiten Netzwerks „Omas gegen Rechts“. Die Organisation ist so empört, dass sie bundesweit ihre Mitglieder aufgefordert hat Mitglied der VVN zu werden.
Die „Omas gegen rechts“ sollten Schule machen. Ich habe reichlich Beitrittserklärungen verteilt. Ihr könnt sie mir gleich gerne mitgeben.
Und auch wenn ich mich hier im Saal umschaue, wenn ich die Erklärungen eurer Partei lese, bin ich bewegt über die große Solidarität, die daraus spricht.
Die jüngsten Angriffe treffen die älteste und international anerkannte Organisation der Naziverfolgten und Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer.
Die VVN fühlt sich seit 70 Jahren dem Buchenwaldschwur verpflichtet. Der Buchenwaldschwur ist das Vermächtnis der 21.000 überlebende Gefangenen aus sechzehn Ländern. Menschen, die die Brutalität, die Unmenschlichkeit, die Todesmaschinerie, die Folterungen und systematische Auszehrung durch Arbeit bis zum Tod durch den Faschismus hautnah erlebt und erlitten hatten. Sie schworen – ich zitiere:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Es ist auch das Bekenntnis zum Schwur von Buchenwald, aus dem die Schlapphüte des bayrischen Verfassungsschutzes ihre absurden Extremismusvorwürfe gegen die VVN herleiten.
Ich glaube, wir sind uns einig, die Angriffe auf die VVN-BdA, der größten überparteilichen, antifaschistischen Organisation treffen alle. Sie sind nicht isoliert zu sehen. Sie haben eine klare inhaltliche Stoßrichtung. Die Angriffe auf die Gemeinnützigkeit richtete sich in der jüngsten Vergangenheit wesentlich gegen fortschrittliche und linke Organisationen wie ATTAC, die Rote Hilfe und andere.
Zugleich gelten weiterhin neoliberale oder offen rechte Organisationen unangefochten als gemeinnützig:
Das sind zum Beispiel die stinkreiche Bertelsmann-Stiftung, die „Deutsche Gesellschaft für Wehrtechnik“, die die Rüstungslobby vertritt oder auch der als rechtsextrem geltende Verein „UNITER“ zu dem sich unter anderem KSK-Soldaten zusammengeschlossen haben.
Dies ist einer der Mosaiksteine von mehreren, die ein Bild ergeben zu dem, was wir unter Rechtsentwicklung verstehen sollten. Rechtsentwicklung, das ist auch, darf aber nicht nur auf die AFD und ihre Wahlerfolge reduziert werden.
Das ist meine Ausgangsthese.
An dieser Stelle bin ich jetzt bei dem Thema zu dem ich eigentlich sprechen sollte: Rechtsentwicklung und rechte Tendenzen. Und was die Auseinandersetzung damit auf kommunaler Ebene bedeutet.
Warum ist die kommunale Ebene so wichtig ?
Es gibt zwei Orte an denen die Menschen wie in einem Brennglas gebündelt unmittelbar erleben, was in unserer Gesellschaft los ist:
Das ist einmal der Betrieb, der Arbeitsplatz und das zum anderen die Gemeinde, das Wohnviertel und alles was damit zusammenhängt:
Wohnung, Schule, Kindergarten, Arzt, Krankenhaus, Nahverkehr und und und.
In ihrem Betrieb, in ihrer Gemeinde, in ihrem Stadtteil, da wo die Menschen leben erleben sie unmittelbar all die Ungerechtigkeiten und Missstände, all die Auswirkungen einer neoliberalen Politik, die oben ganz viel und unten immer weniger ankommen lässt.
Dort erleben die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes hautnah die Zumutungen dieser Politik. Sie sind empört, fühlen sich entwertet, im Stich gelassen. Oft schlucken sie ihre Wut und ihren Ärger runter, machen wie man so schön sagt eine Faust in der Tasche.
Das ist der psychologische Nährboden, an dem die AfD und andere mit ihrer Demagogie ansetzen.
Und das macht auch die Schwierigkeiten aus, warum wir nicht so tief wie wir uns das wünschen in den Meinungsbildungsprozess der Menschen vor Ort eingreifen können.
Das ist die Nuss wir zu knacken haben.Nicht wir organisierten Antifaschisten, sondern jede dem sozialen und demokratischen Fortschritt verpflichtete Partei
Was meine ich damit?
Seit Jahrzehnten sind wir als VVN aktiv vor Ort.
Klären auf, informieren, erinnern, leisten Widerstand gegen alte und neue Nazis.
• Dazu gehört die Erinnerungsarbeit: In den Gedenkstätten, in den Schulen und Verbänden.Unsere Mitglieder gehen in die Schulen, die Vereine, die Kirchengemeinden.
• Mit dem von uns stark unterstützten Aktionsbündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ ermutigen wir tausende, oft junge Menschen, gegen Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Ausgrenzungen jeglicher Art und gegen Neonazis ihre Stimme zu erheben.
• Wir sind bei den Aktionen oft in breiten Bündnissen dabei, wenn es heißt, alten und neuen Nazis keinen fußbreit Raum zu geben – vor allem deshalb weil Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist.
Und dennoch müssen nicht nur wir erleben, dass trotz offen völkischer Parolen die AfD Wahlerfolge in ungeahnter Höhe feiert.
Und uns muss besorgt machen:
Es ist nicht mehr nur das Potential von 10 bis 15 % der Bevölkerung, die immer schon für extrem rechte Positionen mobilisierbar war – sei es die NPD in den 60er Jahren, seien es in den 80er und 90er Jahren Republikaner in Baden-Württemberg, die DVU in Sachsen-Anhalt oder die Schill Partei in Hamburg.
Uns muss vielmehr besorgt machen, dass der Zulauf zur AfD und den sie unterstützenden Kräften weit über diesen Rahmen hinausgeht.
Was heute bei vielen vielleicht noch dumpfe Proteststimme ist, kann sich über die Zeit zu einer tiefergehenden Grundhaltung verfestigen.
Rechtsentwicklung stoppen, das heißt tieferliegende Strukturen und Motive zu finden, die zur Wahl der AfD führen.
Das ist die Nuss, die wir zu knacken haben.
Hierzu müssen wir uns Fragen stellen:
Wie erklären wir uns folgendes?
Funktionäre der IG Metall berichten von einem knallharten Arbeitskampf in einem Betrieb in Ostdeutschland. Die Belegschaft war einheitlich und engagiert. Gute IG-Metaller eben. Dennoch 40% der Belegschaft hat AfD gewählt.
Welche Antworten geben wir auf die Ergebnisse von Sozialforschungen der Uni Jena. Diese ergaben:
Viele junge Arbeiter organisieren sich bewusst in der Gewerkschaft. Engagieren sich, zeigen den Bossen durchaus was eine Harke ist. Zugleich äußern sie bei Befragungen, dass die AfD so richtig sagt was Sache ist.
Ein Betriebsratsvorsitzender von einem VW-Standort berichtet, dass ein 5-seitiges Argumentationspapier erarbeitet und ausgehangen wurde zum Thema warum die AfD keine Arbeitnehmerinteressen vertritt. Was macht die AfD. Die hängen Plakate auf „ Der Diesel muss bleiben“ – und haben gewonnen.
Das sind Beispiele aus dem betrieblichen Umfeld. Diese können 1 zu 1 übertragen werden auf das Wohngebiet, die Gemeinde.
Forschungen haben ergeben:
Vor allem Arbeiter und kleine Angestellte fühlen sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten. Das ist nach 20 Jahren Hartz4 nicht zu verdenken. Das erklärt unter anderem Verluste der SPD.
Aber: Linke Gruppierungen werden ebenfalls nicht als Alternative angesehen. Deren Themen seien zu sehr bildungsbürgerliche Mittelschicht. Ebenso die Sprache.
So das Ergebnis des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin.
Dies deckt sich auch mit meinen Erfahrung:
Die Leute vermissen eine Kümmerer-Partei, die klare Kante zeigt, den Protest ausdrückt.
Die ihre Sprache spricht. Die mit, und nicht nur über sie spricht. Machen wir uns nichts vor: Die AfD mit ihrer unangepassten, polternden Art der Kritik erweckt bei den Bürgern den Anschein, dass sie etwas tun. Sie arbeiten mit der Fiktion, sozial zu sein. Sie nutzen, zwar im demagogischen Sinn, aber sie nutzen die soziale Frage. Und adressieren dabei Gefühle.
Hier liegt ein wie ich finde zu wenig entwickelter Hebel, den Rechten das Wasser abzugraben. Noch leiten die das noch zu oft ungestört auf ihre Mühlen.
Die Ergebnisse der Wahlen in Belgien oder der Landtagswahl in der Steiermark in Österreich haben gezeigt:
Der Höhenflug der extremen Rechten kann gestoppt werden. Das gilt auch für den flämischen Block in Belgien.
Für antifaschistische Politik, auch auf kommunaler Ebene, ist in dem Zusammenhang interessant, was Peter Mertens, der Vorsitzende der Partei der Arbeit Belgiens ausführt.
Unter der Überschrift:
»Unsere Stories im echten Leben finden« führt er aus:
Wir haben gemerkt, dass die rechten Parteien wahnsinnig erfolgreich waren mit den Geschichten, die sie erzählen. Die fangen bei ganz konkreten Dingen an und verallgemeinern das dann in Richtung einer allgemeineren imperialistischen Agenda. Aber sie beginnen mit kleinen Vorkommnissen, zum Beispiel Betrugsfällen, in denen Leute fälschlicherweise Sozialleistungen oder Behindertenaufschläge bekommen haben. Solche Geschichten schaffen es auf die Titelseiten. Und alle sagen dann, dass sie selber auch jemanden kennen, die auf illegale Weise vom sozialen Sicherungssystem profitiert hat. Und dann gibt es eine Linke – ich spreche jetzt von Belgien, aber ich denke, das ist weit verbreitet – die darauf mit Statistiken zur Ungleichverteilung und Einkommenstabellen antwortet, Sachen, die alle gut und schön sind, aber ganz abstrakt bleiben und emotional nicht ankommen. Diese Linke erreicht die Gehirne, aber nicht die Herzen. Wir müssen auch von links unsere Stories im echten Leben finden und erst von da aus allgemeiner werden.
Wir brauchen unsere eigenen Geschichten: Von der Rentnerin zum Beispiel, die im Monat 800 Euro Rente bekommt und 500 für ihre Miete bezahlt, sodass am Ende pro Tag zehn Euro bleiben. Dann können wir sagen: Es ist nicht nur Frau XY, die so lebt, sondern eine Millionen Menschen im Land, und zwar wegen der Politik in Belgien und der Politik in Europa. So verbindet sich die emotionale Seite der Geschichte mit der abstrakteren politischen Seite.
Das umzusetzen, was Mertens da ausführt, ist zähe Kleinarbeit: Und dazu gehört auch unbedingte Glaubwürdigkeit. Wort und Tat müssen übereinstimmen.
Bitte erlaubt mir in diesem Zusammenhang, durchaus mit dem Bewusstsein, dass ihr hier in NRW anders tickt als in manch anderen Landesverbänden eurer Partei, den Hinweis:
Die Privatisierung der Sozialwohnungen in Berlin, die Zustimmung zu den Polizeigesetzen in Brandenburg wie auch die Mauscheleien um die Privatisierung der S-Bahn in Berlin: es gab und gibt dazu Zustimmung bzw. Beteiligung der Linkspartei.
Die Leute haben ein feines Gespür!
Aber billiger werden wir es nicht haben können – wollen wir den Höhenflug der Rechten stoppen.
Wollen wir eine wirkungsvolle antifaschistische Strategie entwickeln, müssen wir diese im Alltag der Menschen verorten. Antifaschismus braucht nicht nur moralische, sondern auch soziale Füße.
Wenn Parteien oder Wählerbündnisse, die sich dem sozialen und demokratischen Fortschritt verpflichtet fühlen, wozu ich auch eure Partei zähle, bei den Kommunalwahlen im nächsten Jahr vermehrt zum Zuge kommen und damit den Höhenflug der Rechten stoppen – dann ist auch auf dieser Flanke im Kampf gegen rechts viel erreicht.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Ich wünsche eurem Parteitag noch einen guten Verlauf und freue mich auf eine Zusammenarbeit im Kampf gegen rechts.