Der 8. Mai 1945 in Dortmund

8. Mai 2020

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Ulli Sander auf der Landesdelegiertenkonferenz 2020 in Oberhausen (Foto Jochen Vogler).

Aufgrund der Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie finden überall im Land Veranstaltungen überwiegend durch das Internet vermittelt statt. Wir dokumentieren an dieser Stelle einen Vortrag, den Ulrich Sander für den 8. Mai 2020 erarbeitet hat und der leider nicht vorgetragen werden kann. Am Beispiel der Ruhrgebietsstadt Dortmund schildert er die Situation zum Kriegsende und zieht Schlussfolgerungen für die Gegenwart.

Eine Geschichte, die hier zuerst erzählt werden soll, handelt von Willy Kannstein, einem deutschen Bergmann. Die Geschichte spielte in völliger Finsternis. Willy Kannstein sagte im Frühjahr 1945 im Dunkel der Zeche Borussia in Dortmund den sowjetischen Kameraden: „Haltet aus, Eure Truppen kommen bald.“ Kannstein wird verpfiffen. Das spricht sich herum. Daher raten gute Kollegen ihm: „Willy, komm mit uns gemeinsam raus aus der Zeche, wir schützen Dich, wir gehen durch den Luftschacht.“ Doch er geht allein, und die Gestapo erwartet ihn über Tage. Sie nimmt ihn nicht fest, sondern misshandelt ihn an Ort und Stelle, schlägt ihn tot. Dem Arbeiter im Leichenschauhaus schärft die Gestapo ein, Kannstein habe sich in den Tod gestürzt. Aus Angst hält sich der Mitwisser an diese Version vom Selbstmord. Nach dem Krieg bekommt die Witwe Helene Kannstein keinen Pfennig Entschädigung, denn das Naziopfer sei doch ein Selbstmörder gewesen. Da erscheint ein katholischer Priester, berichtet, dass ihm ein ehemaliger Friedhofswärter auf dem Sterbebett gesagt habe, es sei Mord und kein Selbstmord gewesen. Der Priester bietet sich an, die Wahrheit vor Gericht zu beeiden. So kam die hinterbliebene Familie doch noch zu ihrer Entschädigungsrente.

Der Förderverein Steinwache / Internationales Rombergparkkomitee und die Dortmunder VVN-BdA haben über das Kriegsende ihr Buch „Mörderisches Finale – NS-Verbrechen bei Kriegsende“ in einer erweiterten Ausgabe neu herausgegeben (bei PapyRossa). Aus Dortmund berichtete im April 1995 die Geschichtswerkstatt im Band „Die Zusammenbruchsgesellschaft – Kriegs- und Trümmerzeit in Dortmund in Berichten und Dokumenten“. Die folgenden Meldungen stammen aus diesen Büchern.

Aus den Nebenlagern des KZ Buchenwald, die im Ruhrgebiet existierten – darunter in Dortmund – , werden im März 1945 rund 1000 osteuropäische Frauen nach Bergen-Belsen abgeschoben. Die Ruhrindustrie will sich nicht mit ihnen belasten, wenn die Besatzung erfolgt. Im KZ Bergen-Belsen stirbt die Hälfte der Sklavenarbeiterinnen der Krupp, Hoesch und Thyssen. Die Täter aus der Wirtschaft werden nie wirklich bestraft.

Am 13. April 1945 besetzen Briten und US-Amerikaner Dortmund. Sie kommen zu spät; 300 Häftlinge und Zwangsarbeiter sind zuvor von der Gestapo in den Wäldern der Stadt ermordet worden. Die Nazis befürchteten einen Aufstand der Linken und der Ausländer, und dem wollten sie zuvorkommen.

Die Befreiung Dortmunds
Die damals zehnjährige Margret Schuppenhauer berichtet: „Die Amerikaner kamen auf der Hermannstraße nach Hörde rein. Die weißen Amis saßen schön in ihren Jeeps, aber die Schwarzen, die mussten draußen mit ihren MPs alles sichern. Da passierte eine Geschichte, über die habe ich mich schwer aufgeregt: Ein Schwarzer gibt mir eine ganze Ration. Das aber sah ein Weißer. Da hat er den vor meinen Augen zusammengeschlagen. Nur weil er mir so viel gegeben hat.“ Als sie älter wurde und das Fernsehen kam, sah Margret Schuppenhauer die vielen Bilder von den Auseinandersetzungen der Schwarzen und Weißen in den USA. „Da wusste ich, warum das damals passiert war.“

Bericht vom selben Tag an der Hörder Brücke: Die 16-jährige Margret Becker schrieb, sie habe vier Jungen gesehen, die dort an einer Panzersperre die Brücke verteidigen wollten. Sie hatten Stahlhelme auf und Gewehre in der Hand. Dann kamen die Amerikaner, und die Jungen waren verschwunden. Einen Tag später kam die Beobachterin in das einige Kilometer entfernte Berghofen. Sie trifft die vier Jungen, nunmehr ohne Helm und Waffen, dafür in kurzen Hosen. Nachdem sie in Gefangenschaft geraten waren, seien am anderen Morgen ein Offizier und ein Dolmetscher gekommen, „die haben uns die Hosenbeine abgeschnitten“ und gesagt: „Mit Kindern führen wir keinen Krieg. Hier habt ihr eine Tafel Schokolade, und geht schnell nach Hause.“

Das Kriegsende an Rhein und Ruhr und die neue Verwaltung
Am 18.4.45 war das Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens von der Naziherrschaft befreit. Am selben Tag bildeten die Arbeiter im Werk Hörde der Dortmund Hörder Hüttenunion einen Betriebsausschuss. Am 26. April 1945 erfolgte die Einrichtung einer Geschäftsstelle der Metallarbeitergewerkschaft in der Alfred-Trappenstraße in Dortmund-Hörde (geleitet von Wilhelm Schröder, SPD, Wilhelm Kropp, christliche Gewerkschafter und August Rasch, KPD).
Tags darauf fand eine Vertrauensmännerbesprechung auf dem Hoesch-Hüttenwerk in Dortmund statt. Vorgelegt wurde ein 12-Punkte-Programm durch August Severin (KPD), zu dem Programm gehörten „u.a. Fragen der Arbeitszeit, der Einstellung zu den bisherigen Vertretern der Nazis sowie Bestrafung derjenigen PG, die sich Misshandlungen an Kriegsgefangenen usw. haben zuschulden kommen lassen“.
Nachdem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands erfolgt war, nahmen in Dortmund in den Stadtteilen Sozialdemokraten, Kommunisten und parteilose Arbeiter als Mitglieder des Antifaschisten-Bundes „Freies Deutschland“ (Antifa) ihre Arbeit auf. Es waren die Männer und Frauen „der ersten Stunde“. Doch sie waren nicht wohl gelitten. Schon am 18. Mai 1945 wurden „Bekanntmachungen für Groß-Dortmund“ herausgegeben. Die Militär-Regierung der Besatzungsmächte gab bekannt: „Antifa – Diese Organisation ist gesetzwidrig und verboten. Sie hat keine Berechtigung, Verordnungen zu erlassen, Versammlungen abzuhalten, Gelder einzuziehen oder Mitglieder anzuwerben.“ Doch die SPD und KPD warteten weiter auf ihre Zulassung. Einzelne ihrer Mitglieder wurden in den Vorstädten vorübergehend Bezirksbürgermeister.

Nunmehr wurde die Verwaltung nach den alten bürokratischen, hierarchischen Regeln wieder aufgebaut. Als provisorischer Oberbürgermeister wurde ein Dr. Hermann Ostrop eingesetzt – kein NSDAP-Mitglied, aber doch immerhin ein Mann aus dem oberen Beamtenapparat und aus mehreren NS-Verbänden.

Wie in der städtischen Verwaltung so ging es auch in den Betrieben zu. Bereits am 28. Mai 1945 hat der Regierungspräsident vin Arnsberg, Fritz Fries (SPD) angeordnet: „Es ist wiederholt vorgekommen, daß Arbeiter- und Betriebsführer wegen ihrer früheren Zugehörigkeit zur NSDAP von gewählten Arbeiterräten entlassen worden sind. Die Militärregierung erkennt derartige Entlassungen nicht an, sie sind ungesetzlich.“ Und in einem Bericht der britischen Militärregierung über Maßnahmen gegen Nationalsozialisten der Harpener Bergbau AG Dortmund wird den Antifaschisten gedroht: „Leute, die selbständig eingreifen, werden in Zukunft als Ruhestörer betrachtet und dementsprechend behandelt. Wir werden dabei nicht davor zurückschrecken, sehr ernste Maßnahmen gegen Ruhestörer zu ergreifen.“ (so heißt es im Dokument 137 „Wiederaufbau“ des Stadtarchivs Dortmund)

„Dann gnade uns Gott“
In der Zeit vor der Befreiung gab es die guten wie die schlechten Deutschen. Und es gab sie auch nach dem 8. Mai. Die Nazis wurden in Dortmund von den US-Amerikanern dazu herangezogen, die Leichen der von der Gestapo ermordeten Antinazis und Zwangsarbeitern auszugraben und ordentlich zu bestatten. Andere Deutsche hatten vorher den Zwangsarbeiter/innen Brot zugesteckt oder ihnen selbstgebasteltes Spielzeug abgekauft, worüber sogar die NS-Presse berichtete.

Nazis und andere „treue Deutsche“ hatten dem Gauleiter dabei helfen wollen, möglichst viele ausländische Arbeiter in Bergwerksschächten für immer verschwinden zu lassen, wozu es aber nicht mehr kam. Es herrschte die Furcht vor dem vor, was ein Wilhelm Brinkmann aus Dortmund-Aplerbeck geschrieben hat. Er berichtete seiner Frau im April 1944 von der „Partisanenjagd“ und vom Verschleppen von Zivilisten. „Ich habe viel Elend und manche Träne gesehen. Wenn der Krieg verloren gehen sollte, dann sehe ich sehr schwarz, denn die anderen machen es ebenso.“ Es waren unsere lieben Nachbarn, von denen viele von der Frage getrieben handelten: Wenn die ehemaligen Gefangenen nun uns das antun, was wir ihnen und ihren Landsleuten antaten – dann gnade uns Gott.

Auch in Dortmund gab es jene, die bis zum letzten Augenblick für „den Führer“ kämpfen wollten. Aus dem Tagebuch eines jungen Dortmunder Luftwaffenhelfers wird im Buch der Geschichtswerkstatt der Eintrag vom 4. Februar 1945 zitiert: „Ich bin davon überzeugt, dass es keinen Kompromiss geben wird. Der Führer weiß, dass wir entweder gerecht siegen oder als der Schwächere zu verschwinden haben. Sind wir wirklich die Schwächeren, so müssen wir untergehen, so oder so. Sind wir der Stärkere, werden wir siegen, so oder so. Aus dem Wissen um dieses Naturgesetz wird der Führer nie einen Kompromiss schließen.“

Hitlers Testament – und Höcke als sein Erbe
Das hat der Führer dann auch nicht getan, sondern er hat in seinem Testament vom 29. April 1945 kurz vor seinem Selbstmord das „Opfer unserer Soldaten“ als Kraftquell dafür bezeichnet, dass „in der deutschen Geschichte so oder so einmal wieder der Samen aufgehen (wird) zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und damit zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft.“ Josef Goebbels, der NS-Propagandachef, wusste gar, wann das sein wird. Er schrieb am 25. April in sein Tagebuch für die Zeit eines bolschewistischen Sieges: „…in fünf Jahren spätestens wäre der Führer eine legendäre Persönlichkeit und der Nationalsozialismus ein Mythos.“

Schon nach dem ersten Weltkrieg schrieb Erich Kästner: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten / zum Glück gewannen wir ihn nicht.“ Das gilt auch für den zweiten Weltkrieg. Der wurde aber offenbar nicht mit einer wirklich immer währenden Niederlage Deutschlands beendet. Der „Samen“ (Hitler) und „Mythos“ (Goebbels) wird heute wieder beschworen. Der faschistische Führer der AfD Björn Höcke sieht bereits das Feuer des Faschismus sich neu entfachen. „Wir werden auf jeden Fall alles tun, um aus dieser Lebensglut, die sich unter vierzig Jahren kommunistischer Bevormundung erhalten hat und der auch der scharfe Wind des nachfolgenden kapitalistischen Umbaus nichts anhaben konnte, wieder ein lebendiges Feuer hervorschlagen zu lassen.“ (lt.
Süddeutsche Zeitung, 27. März 2020) Nicht so salbungsvoll hatten sich im Herbst 1944 die Vertreter der SS und großer Konzerne auf einem Geheimtreffen in Straßburg ausgedrückt: Wir legen eine Kasse an, damit die Fortführung der Nazi-Partei eine Perspektive hat. Noch reicht Höcke nicht der deutschen Bank die Hand – oder umgekehrt. Doch wenn die umfassende Krise anders nicht überwunden werden kann, ist auch das Bündnis der ökonomischen Eliten mit den Rechtsaußen wieder denkbar.

„Man muss den rollenden Schneeball zertreten“
Was steht diesem „lebendigen Feuer“ entgegen? Der drohenden Brandstiftung von rechts muss begegnet werden. Allerdings sind die demokratischen Feuerwehren zu Zeit geschwächt, und niemand weiß, wie es wirklich weitergehen soll. Die Corona-Krise ist das alles überlagernde Problem. Und dass sie zusammenfällt mit einer tiefgehenden ökonomischen Krise, die nicht nur Corona geschuldet ist, mit der weltweiten Energiekrise und der Krise der internationalen Beziehungen mit ihren drohenden Kriegsgefahren, das macht ein ungeheures Konglomerat von Gefahrenquellen aus. Da lohnt es sich, auf die Zeit zwischen den Weltkriegen zurückzublicken. Wann war der Zweite Weltkrieg unaufhaltbar? Er war unaufhaltbar, als Hitlerdeutschland sich stark genug sah, die Welt in Brand zu setzen. Aber wann war die Macht der deutschen Faschisten aufhaltbar? Erich Kästner sagte am 10. Mai 1958 in Hamburg bei der Tagung des PEN Deutschland: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.“

Ich würde das Datum, da der Schneeball zu rollen begann, aber doch noch aufhaltbar war, und zwar durch eine kluge, hellwache demokratische Gesellschaft, die es in den zwanziger Jahren jedoch nicht gab, auf den Tag ansetzen, der kein Wahltag, sondern ein Zahltag war.

Es war spätestens der Tag, da Vertreter der ökonomischen Eliten sich mit Hitler verbanden. Sehr früh war Thyssen dabei. Noch früher Emil Kirdorf. Der führende Industrielle der Kohle- und Stahlindustrie traf am 27. April 1927 mit Hitler zusammen, dieser referierte ihm sein Programm und Kirdorf zahlte eine dicke Spende, vor allem aber verbreitete er Hitlers interne Denkschrift „Der Weg zum Wideraufstieg“ unter den Industriellen und warb unter ihnen für die Nazis. Fünf Jahre später beim Industrieellentreffen im Düsseldorfer Industrieclub, da war das Bündnis perfekt. Das Programm der Nazis „Vernichtung des Marxismus“ und Wiederaufstieg mit militärischen Mitteln, das passte den Herren.

Auf Kapitalismuskritik niemals verzichten
Unsere Stadt ist vorbildlich im Gedenken an die Opfer – ich nenne die regelmäßigen Gedenkkundgebungen in der Bittermark und die bevorstehende Einweihung des Mahnmals auf der Kulturinsel im Phönixsee. Doch dem steht entgegen die Verweigerung der Mahnung vor den Tätern, den Tätern aus den ökonomischen Eliten.
Noch existiert der Raum 7 in der Ausstellung zu „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 bis 1945“. Sein Motto „Die Schwerindustrie setzt auf Hitler“. Doch es wurde uns angekündigt, dass dieser Raum bei einer Umgestaltung der Steinwache, des Ausstellungsgebäudes, verschwinden soll. Man sehe nicht ein, dass die These von der Unterstützung des Großkapitals für den Faschismus beibehalten werden soll. Sie hätte sich als falsch erwiesen. Die Aufklärungstafel über Kirdorf soll aus der Steinwache ebenso verschwinden wie andere antikapitalistische Ausstellungsstücke. Bemerkenswert ist zudem, dass es in Dortmund-Eving mit Billigung der Stadtführung immer noch eine Kirdorf-Kolonie gibt. Der Verehrung für Kirdorf sollte eine Aufklärungstafel entgegengestellt werden, hat die zuständige Bezirksvertretung Eving vor acht Jahren beschlossen. Doch die Aufstellung der Tafel lässt auf sich warten. Zunächst soll wohl erst einmal die Aufklärungstafel in der Steinwache verschwinden. Dabei wäre sie sowohl in Steinwache als auch in Eving sehr notwendig.
Hier äußert sich die Scheu, die kapitalistischen Schuldigen beim Namen zu nennen. Die Scheu vor der Kapitalismuskritik. Diese ist aber unerläßlich.

Was tun in der heutigen Krise?
Man hat die gegenwärtige tiefe Krise als die schwerste seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Die Kanzlerin selbst gab diese Einschätzung heraus. Da sind wir gut beraten nachzuschauen, was nach 1945 zur Überwindung der Krisenfolgen ausgesagt und getan wurde. Die Kanzlerpartei CDU schrieb in ihr erstes Parteiprogramm: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“. An die Stelle des Kapitalismus gelte es, „eine gemeinwirtschaftliche Ordnung“ zu setzen. „Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muß davon ausgehen, daß die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist.“ Ähnliche Aussagen aus jener Zeit sind von der SPD überliefert.

Ich bin sicher, dass die Mehrzahl der Bürger, vielleicht auch der christlich-sozialen (?), nach dieser größten Krise seit 1945 zu ähnlichen Schlüssen kommen sollte: Der Kapitalismus wird den Lebensinteressen der Menschen nicht gerecht. Auf Schildern, die zum Lobe der Angehörigen des Gesundheitswesens von Balkonen gezeigt wurden, stand ganz schlicht: Die Krankenschwestern und –pfleger nicht nur loben, sondern besser bezahlen! Und der Wirtschaftsminister sagte in einer Talkrunde: Wir werden nicht umhin kommen, als Staat Teile der Wirtschaft aufzukaufen. Prof. Uli Paetzel, Chef von Emschergenossenschaft und Lippeverband, sagte der Westfälischen Rundschau am 15. April 2020: „Bestimmte Felder der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen wir nicht dem Markt überlassen. Das wird eine der entscheidenden Lehren aus der Corona-Krise sein.“ Ja, es muss nichtkapitalistische Lösungen geben. Es muss planwirtschaftliche Lösungen geben. Paetzel fordert einen „Infrastruktur-Sozialismus“, so im Gesundheitswesen, bei der Wasserwirtschaft, auf dem Energiesektor, dem Mobilitäts- und Verkehrssektor und bei der Digitalisierung. Die Losung „Privat vor Staat“ wird wohl bald niemand mehr in den Mund nehmen.

Im Godesberger SPD-Programm der fünfziger Jahre stand (und das nahm Abschied vom Sozialismus): Soviel Plan wie nötig, soviel Markt wie möglich. Doch die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln blieb unbeantwortet. Die DGB-Gewerkschaften stellten in ihrer Programmatik fest: Es erfolgte die Wiederherstellung der alten Besitz- und Machtverhältnisse. Weshalb die Veränderung dieser Verhältnisse stets in der gewerkschaftlichen Programmatik Bestand hatte.

Welche Schlüsse auch immer nach der Krise gezogen werden: Das antikapitalistische Denkverbot muss beseitigt werden. Schluss mit den Denkverboten, die von den Herrschenden – und leider auch von Dortmunder Kommunalpolitikern – verordnet werden. Ich verweise auf die Vorgänge um die Steinwache und die sogenannte Kirdorf-Kolonie.

Das Vermächtnis der Lippstädter Arbeiter
Im Rahmen unserer Forschungsarbeit über die Kriegsendverbrechen und ihre Opfer haben wir nur wenige Berichte gefunden über das, was der Widerstand nach dem Krieg wollte. Eines Tages erhielten wir Neuigkeiten aus Frankreich. Frederic Scamps aus Hyeres/Frankreich, hat uns geschrieben und uns um Auskünfte über seinen Großvater Léon Chadirac gebeten, der im Frühjahr 1945 in Lippstadt Zwangsarbeit verrichten musste und dann in der Bittermark/Rombergpark ermordet wurde.

Die Anklageschrift des „Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof“ wurde von uns im Bundesarchiv entdeckt (Aktenzeichen 9 J 29/45 Bez. 6). Sie belegt die Tätigkeit einer internationalen Widerstandgruppe noch 944/45.
Über den 1911 geborenen Kesselschmied Leon Chadirac aus St. Amand-les-Eaux und seine deutschen und französischen Mitstreiter heißt es: In Lippstadt hätten die Angeklagten aus der Firma Westfälische Union AG sich auf der Grundlage „feindlicher Hetzsendungen“ politisch abgestimmt; der „Grundton der Gespräche war kommunistisch“. Die Gruppe wurde „der Feindbegünstigung und der Vorbereitung zum Hochverrat, der Wehrkraftzersetzung und des Rundfunkverbrechens“ angeklagt; zu einem Verfahren kam es nicht mehr. Im Falle von Leon Chadirac wurde die Anklage von der Berliner Reichsanwaltschaft und von der Gestapo Dortmunds so begründet: „Der Angeschuldigte Chadirac beschäftigte sich im Gespräch mit den Verhältnissen der deutschen und französischen Arbeiter“ und er trat „für ein Pan-Europa mit Einschluss Sowjetrusslands ein.“ Die Anklageschrift lässt den Schluss zu, dass die deutsch-französische Widerstandsgruppe eine politische Plattform für eine friedliche Zukunft hatte und auch mit Flugzetteln – die Anklageschrift spricht von „Hetzgedichten“ – an die Kollegen herantraten.
Das Vermächtnis des Widerstandes sollte uns Verpflichtung sein. Es wird im Schwur der Häftlinge von Buchenwald ausgedrückt: Den ‚Kampf erst einzustellen, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht. Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“