Ansprache von Ulrich Schneider beim Ruhr-Ostermarsch am 22. April 2019 in Dortmund-Dorstfeld
28. April 2019
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
der diesjährige Ostermarsch findet in Zeiten politisch ernsthafter Konflikte in den internationalen Beziehungen statt. Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten, der Dachverband der Veteranen- und Verfolgten-Verbände und heutiger Antifaschisten mit Mitgliedsorganisationen in Europa, Israel und Lateinamerika, hat als „Botschafter des Friedens“ der Vereinten Nationen bereits mehrfach vor einer Verschärfung dieser internationalen Konflikte gewarnt.
Als Anfang Februar 2019 die US-Administration ihre Drohung vom vergangenen Herbst in die Tat umgesetzt und den 1987 abgeschlossenen bilateralen Vertrag mit der Sowjetunion/ heute Russland über die Vernichtung nuklearer Mittelstreckensysteme (INF) aufgekündigt hat, haben wir unsere Stimme erhoben. Wir erinnerten daran, dass die Unterzeichnung des INF-Vertrages vor 30 Jahren tatsächlich zu einer Verschrottung einer ganzen Kategorie von Atomwaffen, also zu einer realen Abrüstung, geführt hat. Das Ende der Blockkonfrontation mit der Auflösung des „Warschauer Vertrages“ hat dazu beigetragen, dass die militärischen Spannungen in Mitteleuropa zeitweise tatsächlich reduziert werden konnten.
Und wir warnte: „Das Ende des INF Vertrages wäre mehr als die Beendigung eines Vertrages, es wäre das Ende einer internationalen Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik, die Europa und die Welt sicherer gemacht hat vor den Gefahren eines Atomkrieges. Der Vertrag hat ausreichende Regelungen, falls eine Vertragsseite Verletzungen des INF-Abkommens sehen sollte. Diese gemeinsamen Kommissionen müssen arbeiten. Propagandistische „Anklagen“ helfen dabei nicht.“
Doch statt im Sinne der Vernunft und der Demilitarisierung Europas auf die USA und Russland zuzugehen, stellten sich die europäischen NATO-Staaten demonstrativ hinter die Eskalationspolitik der USA und ermunterten die Trump-Administration dazu, aus dem Vertrag auszusteigen – mit dem jetzt sichtbaren Ergebnis.
Wir sehen in diesem Vertrag auch heute noch ein wichtiges Instrument gegen ein atomares Wettrüsten. Die FIR fordert daher alle europäischen Regierungen – und damit natürlich auch die Bundesregierung – auf, ihren Einfluss zu nutzen und auf die amerikanische und russische Seite zuzugehen und Verhandlungen anzustoßen, um das Abkommen zu bewahren. Statt Aufrüstung zu beschließen, müssen die 1987 vereinbarten Maßnahmen der gegenseitigen Inspektionen wieder mit Leben gefüllt werden.
Seit Monaten wird die politische Debatte in den NATO Staaten davon geprägt, dass die USA fordert, alle Mitgliedstaaten sollen ihren Rüstungshaushalt auf 2% des Bruttoinlandsprodukts steigern. Diese Zielvorgabe wurde bei dem Treffen anlässlich des 70. Gründungsjubiläums der NATO von den Regierungsvertretern aus allen Mitgliedsstaaten bestätigt, obwohl es in einigen Fällen eine Verdoppelung der Ausgaben für Kriegsvorbereitungen bedeutet. Außerdem wurde die Verlegung weiterer Militäreinheiten an die Ostgrenze der NATO angekündigt, was direkt gegen Russland gerichtet ist.
Dagegen setzen wir auf die Aktivitäten der Friedensbewegung, die schon jetzt mehrere 10.000 Unterschriften unter den Appell „Abrüsten statt Aufrüsten“ gesammelt hat.
Als ich vor einigen Wochen angesprochen wurde, heute zum Ende des Ruhr-Ostermarsches hier in Dortmund zu sprechen, habe ich gerne zugesagt, weil ich in die Diskussion der Friedensbewegung neben diesen Themen einen weiteren Aspekt benennen wollte, der uns gemeinsam beschäftigt, nämlich die politischen Gefahren, die sich aus dem Anwachsen extrem rechter Kräfte in Europa ergeben.
Ich weiß, wie sehr ihr hier in Dortmund-Dorstfeld selber mit dem Problem der extremen Rechten zu kämpfen habt. Rassismus, Nationalismus, gewalttätige Übergriffe und Ausgrenzungen vergiften den Alltag in diesem Stadtteil.
Jetzt, in der Vorbereitung auf die Europawahlen vom Mai dieses Jahres, kommt es zusätzlich darauf an, den Vormarsch extrem rechter und rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen in zahlreichen europäischen Ländern gemeinsam entgegenzutreten.
Ihr alle kennt die Wahlergebnisse für die AfD in unserem Land. Das Auftreten ihrer Mandatsträger im Bundestag und in verschiedenen Länderparlamenten zeigt immer wieder aufs Neue, dass Rassismus und Intoleranz – verbunden mit neoliberaler Wirtschaftspolitik – zum Kernthema dieser Gruppe gehören.
Als angebliche „Opposition“ steht sie gleichwohl für Aufrüstung, auch wenn die Partei sich öffentlich gegen Bundeswehreinsätze im Ausland ausspricht. Ihre Haltung ist jedoch nicht friedenspolitisch begründet. So fragte ein Abgeordneter der AfD mit vollem Ernst in einer Bundestagsdebatte, warum unbedingt Bundeswehr-Soldaten eingesetzt werden sollten und man die „militärische Drecksarbeit“ nicht von den USA erledigen lasse. Eine friedenspolitische Kritik an den Auslandeinsätzen sieht anders aus.
Aber nicht nur in unserem Land, in vielen europäischen Ländern ist eine solche reaktionäre Strömung politisch auf dem Vormarsch.
Vorreiter dieser politischen Rechtsentwicklung sind insbesondere die Regierungen in Italien, Österreich und Ungarn.
Der italienische Innenminister Matteo Salvini tritt dabei mit den skandalösesten Vorschlägen an die Öffentlichkeit. Zuerst wollte er Internierungslager für Flüchtlinge auf tunesischem Boden errichten, dann untersagte er den italienischen Bürgermeistern, Flüchtlinge in die Gemeinden zu integrieren – stattdessen mussten sie in unmenschliche Massenunterkünften zurückkehren. Gleichzeitig verweigerte er über mehrere Wochen Seenot-Rettungsbooten mit hunderten geretteten Flüchtlingen die Einfahrt in italienische Häfen. Sein skandalösester Vorschlag war die Aufstellung eines Bevölkerungsregisters nach rassistischen Kriterien, mit dem er insbesondere italienische Roma-Familien rechtlos machen wollte. Diese Liste seiner rassistischen und nationalistischen Ausfälle lässt sich leider beliebig verlängern.
Für seine Politik, die er mit seiner Partei Lega auch im europäischen Parlament fortsetzen will, sucht er Kooperationspartner. Vor wenigen Tagen trat er dazu in Mailand vor die Presse – an seiner Seite die deutsche AfD und Vertreter weiterer europäischer Rechtsparteien. Zwei Tage später meldete sich auch die FPÖ von Heinz-Christian Strache, um ihre Unterstützung anzukündigen.
Diese FPÖ ist seit der letzten Parlamentswahl als Koalitionspartner der konservativen ÖVP unter dem zum „Hoffnungsträger“ ernannten Sebastian Kurz ebenfalls für die Flüchtlingspolitik zuständig. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser schwarz-blauen Koalition ist die Ablehnung der Aufnahme weiterer Flüchtlinge in Mitteleuropa und ein zunehmender Nationalismus.
Und während bei den Wahlen viele kleine Leute noch glaubten, die FPÖ sei eine Alternative gegen „das System“, zeigt doch die praktische Politik der FPÖ in den vergangenen Monaten, dass diese Partei nichts anderes betreibt, als neoliberale Wirtschaftspolitik, Zerschlagung von Sozialsystemen und Abbau von Rechten der arbeitenden Bevölkerung.
Diese Erfahrung machen die ungarischen Wähler schon seit vielen Jahren. Mit einer antisemitischen Kampagne gegen George Soros versuchte Orban seit 2018 zu punkten. Im Ergebnis der Parlamentswahlen vom April 2018 konnte man als Beobachter den Eindruck gewinnen, dass der Hauptkampf zwischen der rechtspopulistischen FIDESZ und der offen faschistischen JOBBIK verlieft – also eine „Wahl zwischen Pest und Cholera“ war. Während JOBBIK mit national-sozialistischer Demagogie, also der „Ethnisierung des Sozialen“ punkten wollte, spielte Orban – neben den massiven Einschränkungen demokratischer Freiheiten – zusätzlich seine Anti-EU- und Anti-Migrationspolitik aus. Erschreckenderweise hat Viktor Orban – trotz der Kritik von zivilgesellschaftlichen Kräften einen Wahlsieg mit 2/3-Mehrheit – natürlich auch dank seiner Wahlrechtsreform – erreicht.
Für die Demokratie in Ungarn ist das ein verheerendes Ergebnis. Denn FIDESZ hat bereits damit begonnen, seine demokratischen Kritiker massiv einzuschränken – in finanzieller Hinsicht und bei dem Zugang zu den Medien.
Dass sich in diesem Land Neonazis zuhause fühlen und Anfang Februar 2019 ungestört durch die Behörden der „Festungsstadt Budapest“ gedachten, die – wie das neonazistische Narrativ lautet – sich dem Vordringen der „bolschewistischen Horden“ im Februar 1945 „heldenhaft“ entgegen gestellt hätte, ist ein weiteres Indiz für die verheerende Entwicklung in Ungarn. Selbst Dortmunder Neonazis nahmen an diesem faschistischen Aufmarsch und der anschließenden Wehrsportübung teil – alles ohne Behinderung durch die Behörden.
Ich könnte jetzt noch weitere problematische Entwicklungen anführen,
z.B. Polen unter der PiS-Regierung. Dieses Land weigert sich, Flüchtlinge im Rahmen der europäischen Solidarität aufnehmen. Gleichzeitig treibt diese Regierung innenpolitisch mit Antikommunismus und der strukturellen Ausschaltung der Opposition eine massive Rechtsentwicklung voran. Zudem geriert sie sich als die „Speerspitze“ der NATO gegen Russland in engster Kooperation mit den USA.
z.B. die Baltischen Republiken, die bei ihrer Frontstellung gegen Russland vor einer Rehabilitierung der faschistischen Kollaborateure und Freiwilligen der SS-Einheiten nicht zurückschrecken.
z.B. unsere westlichen Nachbarländer, in denen rechtspopulistische, nationalistische und rassistische Parteien mit dem Feindbild Islam bei den vergangenen Wahlen deutliche Zustimmungswerte erreicht haben.
Aber es gibt auch sichtbare Zeichen des Widerstands.
In Italien demonstrierten im vergangenen Jahr mehrfach mehrere 10.000 Menschen gegen Rassismus und zunehmende Fremdenfeindlichkeit. In Rom, Mailand, Genua und über 100 italienischen Städten marschierten weit über 100.000 Menschen unter der Losung: „Wir verteidigen die antifaschistischen Werte der Verfassung und der Freiheit gegen alle Formen des Faschismus!“ Im Dezember fand auf Einladung von ANPI und FIR in Rom eine internationale Konferenz zur Zusammenarbeit von antifaschistischer und antirassistischer Bewegung statt.
In Österreich erleben wir seit der schwarz-blauen Koalition Großdemonstrationen und einen monatlichen Protesttag gegen die Regierung Kurz in Wien. Die Proteste richten sich gegen den Abbau von sozialen und Freiheitsrechten sowie die rassistische Ausgrenzung.
Selbst in Ungarn zeigen sich Ansätze des gesellschaftlichen Widerstands gegen die FIDESZ-Politik und Viktor Orban. Es geht um Korruption im Umfeld seiner Partei, es geht um die Verteidigung der Pressefreiheit und es geht – und das waren die bislang erfolgreichsten Proteste – gegen das „Sklavenhaltergesetz“, wie es die Ungarn nennen, mit dem die Arbeitsbedingungen in dem Land deutlich verschlechtert werden sollten.
Und dass in unserem Land vielfältige Aktionen von „Aufstehen gegen Rassismus“, von „#unteilbar“, von „Seebrücke“, von Gewerkschaften und zahllosen Organisationen der Zivilgesellschaft dem Vormarsch der extremen Rechten entgegentritt, wisst ihr selber, viele von euch sind in diesen Aktionen aktiv.
Eine gute Perspektive wäre es, wenn sich diese Proteste und Bewegungen gegen den Vormarsch der extremen Rechten und rechtspopulistischer Kräfte in Europa nicht nur in den einzelnen Ländern, sondern europäisch vernetzt entwickeln würden. Dazu gibt es bereits Beispiele, auch wenn es von der zahlenmäßigen Dimension noch viel „Luft nach oben“ gibt.
Bei diesen Protesten muss es um eine stärkere Verbindung zwischen den antifaschistischen Kräften und Organisationen, den antirassistischen Initiativen, den sozialen Bewegungen und der Friedensbewegung gehen.
Wir alle stehen doch im Kern gegen den gemeinsamen Gegner auf der politischen Rechten.
Und für ein solches gemeinsames Handeln gibt es klare politische Anforderungen:
Wenn ein Europa, wie es gegenwärtig konstituiert ist, eine demokratische Perspektive haben soll, dann nur, wenn es sich glaubwürdig gegen rechtspopulistische und extrem rechte Tendenzen und Bestrebungen wehrt. Das bedeutet aber, dass sich die Politik dieser Europäischen Union insgesamt grundlegend ändern muss.
Wir wollen keine Festung Europa, die die zahllosen Toten im Mittelmeer billigend in Kauf nimmt. Europa muss offen bleiben für Menschen, die vor Krieg, politischer oder religiöser Verfolgung, Hunger und Ausbeutung fliehen.
Wir wollen ein Europa, das eine Außenpolitik betreibt, die nicht dazu beiträgt, dass in den nordafrikanischen Staaten oder im Nahen Osten Krieg, Elend und andere Fluchtgründe zunehmen. Wer – wie die deutsche Bundesregierung – öffentlich verkündet, dass die Fluchtursachen bekämpft werden müssten, aber gleichzeitig Panzer und anderes militärisches Gerät direkt oder indirekt an die Türkei und Saudi-Arabien verkauft, der benimmt sich pharisäerhaft und verschärft gleichzeitig die dortigen Krisen.
Wir fordern daher von allen Staaten der EU, statt Rechtspopulismus und Fluchtursachen zu verstärken, eine aktive Politik gegen den zunehmenden Rassismus und die Xenophobie zu betreiben. Europa kann nicht auf der Basis der Abschottung entstehen, sondern muss durch Offenheit und Toleranz geprägt sein.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai dieses Jahres sind eine gute Möglichkeit, diese Botschaft öffentlich zu verbreiten.
Setzen wir gemeinsam ein Zeichen für ein friedliches Europa,
für ein solidarisches und sozial gerechtes Europa,
für ein Europa ohne Faschismus und Rassismus,
für ein Europa, das nicht an den Außengrenzen der EU endet!
© Dr. Ulrich Schneider,
Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten