Redebeitrag von Marko Röhrig zur Gedenkfeier in der Wenzelnberg-Schlucht

28. April 2019

Werte Gäste dieser Gedenkfeier!

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe antifaschistischen Freundinnen und Freunde!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Für die Möglichkeit heute hier sprechen zu dürfen, möchte ich mich recht herzlich bedanken – auch – ausdrücklich im Namen unserer Familie.

Dieser Dank gilt dem VVN/Bund der Antifaschisten NRW, dem VVN/BdA Kreisverband Remscheid und auch noch mal ganz besonders der Stadt Langenfeld und persönlich Herrn Voss und Herrn Bürgermeister Schneider.

Tatsächlich war es mir (und unserer Familie) ein besonderes und persönliches Anliegen, für die diesjährige Gedenkfeier einen Beitrag zu leisten.

Werte Gäste!
Liebe Freundlinnen und Freunde,
Kolleginnen und Kollegen!

71 Häftlinge fanden am 13. April 1945 hier auf grausame Weise den Tod.

Nicht alle Namen, der hier ermordeten sind bekannt und erscheinen als „Unbekannt“ bei der Auflistung der hier von der Gestapo Ermordeten.

Es bleiben bis heute Unbekannte Opfer deren Namen vermutlich nie mehr herausgefunden werden können. Aber es waren Menschen, ganz gleich warum sie inhaftiert waren.

Menschen, die anderen Menschen etwas bedeuteten, Freunde hatten, Familie hatten.

Hinter jedem dieser Menschen steht eine persönliche Geschichte.

Die Geschichte eines dieser Männer ist untrennbar mit der Geschichte und Erinnerungen eines kleinen Jungen verbunden.

Dieser Junge ist heute fast 88 Jahre alt.
Es ist mein Großvater, der hier heute ebenfalls anwesende, Reinhold (Gerhard Kurt) Röhrig.

Mein Opa kannte einen der hier getöteten Menschen sehr gut,
denn es war sein Onkel: Paul Lisziun

Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Freundinnen und Freunde,

für mich und meine Familie ist die heutige Gedenkfeier etwas Besonderes und Bewegendes.

Gemeinsam mit meinem Großvater und meinem Vater konnten wir am 27. März den nun zusätzlich angebrachten Basaltstein in Augenschein nehmen.

Für meinen Opa, meinen Vater und mich war das ein besonderer Moment. Denn ein in Vergessenheit geratenes Familienmitglied bekam so seine Identität und seine persönliche Geschichte zurück.

Nun weist dieser an der Bronzeplatte angebrachte Basaltstein auf die korrekte Schreibweise des Nachnamens unseres Onkels, Großonkels und Urgroßonkels hin.

Wer war dieser Paul Lisziun, die Nummer 36. auf der Liste der hier am 13. April 1945 Ermordeten?

Warum kommt es erst heute, 74 Jahre nach diesem schrecklichen Verbrechen, zur Aufklärung der richtigen Schreibweise?

Und warum hat unsere Familie nicht schon viel früher darauf hingewiesen, dass einer der 71 Toten unser – ja mein Vorfahre war?

Warum konnte erst jetzt richtiggestellt werden, dass sich unter den Opfern – entgegen bisherigen Behauptungen – doch ein Mensch aus dem Bergischen Land – aus Remscheid – befand?

Um Ihnen, um Euch heute hierzu Antworten zu geben und auch das kurze Leben des Paul Lisziun näher zu beleuchten, muss ich etwas ausholen.

Tatsächlich hat die jährlich stattfindende Gedenkfeier, hier am Wenzelnberg, sehr viel damit zu tun.

Pause

Ich weiß nicht mehr ganz genau, in welchem Jahr ich erstmals an der Gedenkfeier hier teilgenommen habe.

Ich meine es müsste 1993 gewesen sein, dass unser Gewerkschaftssekretär der IG Metall im Ortsjugendausschuss über die bevorstehende Gedenkfeier in der Wenzelnbergschlucht berichtete.

Hartmut Knupp, unser Gewerkschaftssekretär bot uns, der Gewerkschaftsjugend kurzerhand an, uns zu diesem Termin mitzunehmen.

So war ich also 1993 zum ersten Mal hier am Wenzelnberg und habe an der Gedenkfeier teilgenommen.

Bewegt und beeindruckt von der Gedenkfeier und das, was bei der Veranstaltung erfahren habe, berichtete ich kurze Zeit später auf der Geburtstagsfeier von meinem Opa.

Damals lebte meine Urgroßmutter Anna Röhrig, geborene Lisziun noch, die ebenfalls zuhörte was ich über die Gedenkfeier und meine Eindrücke zu berichten hatte.

Als ich in meiner Neugierde nachgefragt hatte, wie das denn damals war und was Sie denn über die Geschehnisse am Wenzelnberg wussten, vernahm ich von meiner Uroma einen Satz der mir in Erinnerung blieb:

„Da liegt auch der Paul.“

Da das Thema aber nicht gerade geeignet war, um auf einer Geburtstagsfeier darüber zu reden, wurde mit dieser Feststellung sehr schnell das Thema gewechselt.

In Erinnerung blieb mir aber dieser eine Satz:
„Da liegt auch der Paul.“

Dieser Satz ließ mich nie ganz los…

Pause

Ein Jahr später war ich wieder bei der Gedenkfeier.
Ich wollte mir unbedingt die Namen auf der Bronzetafel anschauen.

Allerdings habe ich vergeblich nach dem Namen „Lisziun“ gesucht.

Ein Name war zwar ähnlich.
Doch ich suchte nach dem Mädchennamen meiner Uroma Anna und orientierte mich tatsächlich nach den letzten drei Buchstaben.

Dies war dann wohl der Grund, weswegen ich wohl den ähnlich klingenden Namen „Lizum“ schlicht überlesen habe.

Die Reaktionen auf der Geburtstagsfeier hielten mich dann ab, weitere Nachfragen über den jüngsten Bruder meiner Uroma zu stellen.

Schließlich war ich mir auch nicht sicher, ob dieser tatsächlich zu den hier Ermordeten gehörte.

Ich fand ja seinen Namen nicht auf der Bronzetafel.

Liebe Freundinnen und Freunde,
Kolleginnen und Kollegen!

Mehr als 20 Jahre später habe ich 2017 angefangen, mich mit unserer Ahnengalerie zu beschäftigen. Mein Vater und insbesondere mein Opa halfen mir dabei.

Als ich in der väterlichen Linie recherchierte, stieß ich natürlich auch wieder auf meine Uroma Anna und ihre Geschwister.

Uns wurden einige Unterlagen aus Ostpreußen zur Verfügung gestellt, darunter auch Geburts- und Sterbeurkunden.

Auffallend war nun zum ersten Mal, dass in den Fundstücken und Dokumenten bei dem Nachnamen unterschiedliche Schreibweisen zu finden waren.

Der Satz meiner Uroma: „Da liegt auch der Paul.“ und die jährliche „Gedenkfeier am Wenzelnberg“ waren mir wieder präsent.

Nun war ich – nun waren wir uns sicher.

Ja, es ist unser Onkel, Großonkel und Urgroßonkel, der genau hier mit gerade mal 30 Jahren als junger Mann den Tod fand.

Also konzentrierten sich unsere Recherchen nun primär
auf „Paul Lisziun“ und sein viel zu kurzes Leben.

Pause

An dieser Stelle möchte ich mich bei den bergischen Historikern herzlich bedanken, die mir immer wieder Tipps gegeben haben und uns bei der Recherche unterstützten.

Namentlich sind das insbesondere Armin Breidenbach, Stefan Stracke, Prof. Jörg Becker, Viola Meike und mein wandelndes Geschichtsbuch und Parteigenosse Fritz Beinersdorf.

Die Recherchen sind für uns noch nicht abgeschlossen.
Und es bleibt für uns spannend, denn mit jedem Fund zur Geschichte ergeben sich neue mögliche Quellen.

Doch schon jetzt können wir einiges über unseren Onkel, Großonkel und Urgroßonkel berichten.

Hier und heute…
Und an dem Ort, wo Paul Lisziun den Tod fand.

Liebe Freundinnen und Freunde,
Kolleginnen und Kollegen,

Wer war Paul Lisziun?

Paul Lisziun, der Sohn von Gustav und Gottliebe Lisziun (geb. Czarnetzki) wurde am 20. November 1914 in Konopken, Ostpreußen geboren.

Er war das Nesthäkchen in der Familie und hatte vier Geschwister.

Marie Lisziun, geboren am 25. Juli 1912 verstarb als Kleinkind vier Tage nach Ihrer Geburt.

Ida Lisziun, geboren am 4. Mai 1910 blieb bis zu ihrem Tod unverheiratet. Sie flüchtete auf einem der letzten Schiffen mit Flüchtlingen aus Ostpreußen. Sie verstarb beim Untergang des Schiffes in der Ostsee.

Gustav Liszuhn, geboren am 11. April 1907 war ein treuer Wehrmachtssoldat und wurde im Krieg mehrfach verwundet.

Er lebte nach dem Krieg bis zu seinem Tod 1992 in Remscheid-Lüttringhausen. Seine Frau verstarb bereits 1984.

Tatsächlich hatte Gustav seinen Nachnamen ändern lassen…
Wie Opa sich erinnert, wohl aus Scham für seinen Bruder Paul.

An seinem jüngeren Bruder ließ er kein gutes Haar, bezeichnete ihn als Verräter und Kommunist.

Die Älteste war meine Urgroßmutter Anna Lisziun, geboren am 10. März 1906; sie verstarb 1996 in Remscheid.

Anna Lisziun heiratete 1928 in Bialla/Ostpreußen den gebürtigen Remscheider Feilenhauer Max Friedrich Arthur Röhrig, meinen Urgroßvater.

Um der Einberufung meines Großvaters für die Wehrmacht zu entgehen, flohen meine Urgroßeltern mit den Kindern über Berlin in die alte Heimat meines Urgroßvaters – ins Bergische Land.

So verhinderten sie tatsächlich die Einberufung meines – damals
12-jährigen – Opas als Kindssoldaten.

Der gebürtige Waldbröler Carl Röhrig und seine zweite Frau Amalie Röhrig, geb. Ruttkamp, also meine Ur-Ur-Großeltern wollten hingegen in Ostpreußen bleiben.

Sie wurden dort in Konopken/Bialla (dt.: Mühlengrund/Gehlenburg) von den einmarschierenden Russen im eigenen Haus ermordet.

Paul war zunächst, wie sein älterer Bruder Gustav, ebenfalls in der Wehrmacht und diente als Minenleger.

Die Kriegswirren und letztlich wohl auch seine politische Einstellung gegen den Faschismus ließen ihn die wohl schwere Entscheidung treffen, zu desertieren und fortan im Untergrund und Widerstand gegen die Faschisten zu agieren.

In dieser Zeit tauchte er immer wieder mal bei der Familie in Remscheid (Klausen) auf, tauchte aber immer wieder unter.

Er galt in der Familie als aktiver Kommunist, was nicht allen geheuer war.

Bisher konnten wir nicht aufklären, ob er für die KP aktiv war.

Allerdings belegt das in unserem Besitz befindliche Arbeitsbuch von Paul Lisziun, dass er zumindest zeitweise unter der Adresse meiner Urgroßeltern (Klausen 9 in Remscheid-Lüttringhausen) gemeldet war.

Da es bisher hieß, dass niemand der Wenzelnberg-Toten aus dem Bergischen Land stammt, muss diese Aussage korrigiert werden. Das Arbeitsbuch von Paul Lisziun wurde in Remscheid ausgestellt, wonach er eben dort gemeldet war.

Als desertierter Soldat hatte er seitdem kein leichtes Leben.
Er musste immer wieder untertauchen.

Unterschlupf fand er in dieser Zeit auch immer wieder bei meinen Urgroßeltern in Lüttringhausen (Klausen).

Er schlug sich mit schlecht bezahlten Jobs durch und geriet auch immer wieder mit den Gesetzen der Faschisten in Konflikt.

Für meinen Großvater aber war der Onkel Paul immer jemand, zu dem er aufgeschaut hat, ihn für seine Art bewundert hat.

Tatsächlich waren laut den Gefängnisunterlagen insgesamt 10 Vorstrafen angegeben. Auf Grund welcher, angeblicher Taten diese erfolgten, konnten wir nicht abschließend feststellen.

Bekannt ist aber, dass die Nazis bei politischen Gegner schon das kleinste Delikt nutzen, diese politisch mundtod zu machen.

Paul Lisziun war bis zu seiner Ermordung im Zuchthaus Lüttringhausen inhaftiert.

Offiziell wurde er zuletzt wegen Straßenraubes und schwerer Körperverletzung 1938 zu acht Jahren und acht Monaten Haft verurteilt.

Eine andere Quelle hingegen besagt, dass das Strafmaß 6 Jahre und 8 Monate betrug, mit anschließender Sicherheitsverwahrung.

Wie Paul selber der Familie berichtete, flüchtete er nach einer aufgeflogenen Zusammenkunft, wobei er auf der Flucht eine Person vom Fahrrad stieß und dieses zur weiteren Flucht verwendete.

Er wurde letztlich gefasst, verurteilt und bis zur Ermordung inhaftiert.

Die Familie erfuhr erst weit nach der Tat, dass Paul Lisziun zu den Toten in der Wenzelnbergschlucht gehört.

Dies berichtete Karl Renker, ebenfalls entfernter Verwandter und damals regimetreuer Aufseher in Lüttringhausen.

Paul Lisziun (Liszum) war Nr. 36 auf der Liste des Zuchthauses.

Mit der Liste hat der Zuchthausleiter Engelhardt in Lüttringhausen die Todeskandidaten im selektiert.

Engelhardt bezeichnet Lisziun als Fürsorgezögling und gefährlichen Gewohnheitsverbrecher.

Nach dem neuesten Fundstück, spricht vieles dafür, dass Paul Lisziun tatsächlich im Widerstand aktiv war.

Stefan Stracke hat mir vor wenigen Wochen eine Krankenhauskarte zukommen lassen. Dieses belegt, dass Paul seine Haft nicht nur im Zuchthaus Lüttringhausen absaß.

Er wurde mit weiteren Häftlingen auch in das KZ-Außenlager Düsseldorf verlegt und dort im Bombenräumkommando Kalkum eingesetzt.

Bekannt und dokumentiert ist, dass hier gerade Widerständler und politische Häftlinge eingesetzt wurden.

Hier hin wurden aus Lüttringhausen insbesondere die politischen Häftlinge angefordert, vor allem Sozialdemokraten, Kommunisten und andere Widerständler.

Bei den Nazis gab es die heimliche Losung:
„Mögen so viele Kommunisten und Sozialdemokraten wie möglich dabei draufgehn!“

Tatsächlich wurden viele bei den Einsätzen verletzt und getötet.

Das Bombenräumkommando war in Kalkum nahe der Bahnlinie nach Düsseldorf in einem Wald versteckt.

Die Gefangenen aus Lüttringhausen wurden dort in Baracken untergebracht und lebten nun als Gefangene auf Außenkommando.

Sie wurden eingesetzt, um die rund 20 Prozent Blindgängerbomben im Raum Düsseldorf freizugraben und zu entschärfen.

Viele von ihnen überlebten diese Einsätze nicht.

Bei einem dieser Einsätze verletzte Paul Lisziun sich und wurde 1944 im Bezirkskrankenhaus Düsseldorf-Derendorf behandelt.

Danach wurde er wieder zurück zum Sprengkommando verlegt.

Allein für das Jahr 1944 wurden für die etwa 40 Bombenräumer aus Lüttringhausen 50 % Verluste im Jahr gemeldet.

Paul Lisziun überlebte das und kam zurück nach Lüttringhausen.

Die restliche Geschichte ist den Anwesenden bekannt. Ist sie doch der Grund, warum wir hier jedes Jahr gegen das Vergessen und zu Ehren der Toten wieder kommen.

Diese traurige – aber wahre Geschichte endete für 71 Menschen mit einem Genickschuss und den Fall in die Grube – hier an der Wenzelnbergschlucht.

Paul Lisziun war die Nummer 36.
Er starb mit gerade mal 30 Jahren.

Mit dem heutigen Tag haben wir Paul Lisziun etwas zurück gegeben. Er ist nicht in Vergessenheit geraten!

Denn der kleine Junge von damals
– von dem ich anfangs berichtete –
holte diese Geschichte wieder in die Köpfe der Familie.

Seine Erinnerungen waren die wichtigsten Quellen für unsere Recherchen.

Heute ist er die wohl einzige noch lebende Person,
die Paul Lisziun persönlich kannte.

Lieber Opa,

deine Erinnerungen haben nun dafür gesorgt, dass Paul nicht als „irgendein Opfer der Nazis“ in Vergessenheit gerät.

Paul Lisziun hatte eine Familie!

Er hatte Eltern, Geschwister, Freunde
und einen Neffen, der immer zu ihm aufgeschaut hat.

Dass dies nun dokumentiert ist, ist für uns der wichtigste Ansporn gewesen, Paul seine Identität und Familie der Vergessenheit zu entziehen und wieder zu geben.

Paul Lisziun war unser Onkel, Großonkel und Urgroßonkel!

Ja! – Hier liegt Paul!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!