Zwei höchst interessante Firmen
19. Juli 2019
Von Ulrich Straeter
Folgendes ist ein Auszug aus dem unveröffentlichten Manuskript von Ulrich Straeter „Vom Ruhrgebiet nach Helgoland – Eine Fahrrad-Reise durch die Fünfzigerjahre.“ Er schrieb im Vorwort und dem Kapitel: „Backpulver, ein Teich, eine Jugendherberge und ein Denkmal“:
Die Geschichte ist nicht die Vergangenheit.
Sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere
Geschichte in uns. Wir sind unsere Geschichte.
James Baldwin
Nur im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen
haben die Begebenheiten im Leben des Einzelnen
Interesse für die Gesamtheit.
Erich Mühsam
Schreib das auf, was Sache ist.
Einer muss das machen. Nicht auf andere warten.
Christian Geissler (k)
Das Aufschreiben dieser Fahrrad-Reise, die im Jahr 1956 stattfand, als ich fünfzehn Jahre alt war, wurde für mich 2019 im Alter von achtundsiebzig Jahren zu einer spannenden Erinnerungstour. Wie vieles hatte ich vergessen, das wieder zur Oberfläche emporkam – und wie vieles ließ sich aus heutiger Sicht sagen zu den Orten, Menschen und Ereignissen, die mit der Reiseroute zusammenhingen. So gab es neben der eigentlichen Reise von Dortmund nach Bremerhaven mit dem Rad, von Bremerhaven mit dem Zug nach Cuxhaven, von dort mit dem Schiff nach Helgoland und zurück, von Bremerhaven mit dem Rad nach Oldenburg, von dort mit dem Zug nach Münster und von dort wieder mit dem Rad nach Dortmund, eine Zeitreise durch die Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts.
Eingebettet in das Reisejahr 1956 entstehen Bilder der jungen Bundesrepublik Deutschland in den ersten Jahren nach Gründung, Eindrücke vom angeblichen Wirtschaftswunder, Blicke in die restaurative ‚Adenauer-Republik’, die, wie manche Zungen behaupten, in Wirklichkeit von Hermann-Josef Abs, dem Chef der Deutschen Bank geleitet wurde, der auch den Nazis schon treue Dienste geleistet hatte. Der dann nicht der einzige Nazi war, der die Bundesrepublik mit aufbaute. Mit dem Segen des großen Bruders jenseits des großen Teiches, dem unsere Politiker heute noch die Füße küssen. Wir wurden das Bollwerk gegen das Böse im Osten, dem Kommunismus. Und wir sind heute noch dieses Bollwerk gegen das Böse im Osten, obwohl der ‚real existierende Kommunismus’ 1989 aufgehört hat zu existieren. Nur Kuba versucht sich noch zu halten, wird aber hart bekämpft von den USA und daher auch von der EU und Deutschland. Deutschland hat immer schon entschieden, wer die Feinde sind. Dagegen können diese nichts machen. Eng umrahmt ist das Jahr 1956 vom Jahr 1955, als die Bundesrepublik Deutschland der NATO beitrat, und vom Jahr 1957, dem Jahr der ‚Römischen Verträge’, als die Bundesrepublik Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) wurde. Damit war die Westeinbindung dieses deutschen Teilstaates, die vor seiner Gründung 1949 bereits mit der heimlich vorbereiteten Schaffung der Deutschen Mark in den drei Westzonen im Jahr 1948 begonnen hatte, endgültig.
Die Interessen der Jugend in den fünfziger Jahren
Für uns junge Menschen waren diese politisch-historischen Dinge damals noch nicht so wichtig (für manche auch später nie). Wir waren zu jung. Vieles verstanden wir nicht, wussten wir nicht, vieles wussten auch unsere Eltern und Lehrer nicht, manches haben sie uns erzählt, einiges haben sie verschwiegen. Uns interessierten die konkreten, greifbaren Dinge, die es wieder zu kaufen gab: Fußbälle, Fahrräder, Modelleisenbahnen, Schallplatten und Jeans, die zunächst Nieten- oder Cowboyhosen hießen, weil sie aus den USA kamen. Und die Musik: der Rock ’n’ Roll, der Jazz, US-amerikanische und englische Schlager schlechthin. US-amerikanische Filme haben uns beeinflusst und prägen die Menschen in Europa noch heute. Selbst eine solch ‚kleine’ Radtour durch einen Teil Westdeutschlands kann dazu beitragen, den Blick für die Welt darum herum, für die Vergangenheit und vielleicht auch für die Zukunft zu öffnen. Was natürlich besonders für junge Menschen sehr wichtig ist.
Mein Vater, dem es gelungen war, im Sommer 1945 von der Ostfront nach Hause zu kommen, allerdings mit drei körperlichen Verletzungen und bestimmt mit einem Trauma, was man aber damals nicht kannte und nicht benennen konnte, erzählte mir Erlebnisse aus dem Krieg, die mir diesen als das Grausamste und Schlimmste, was Menschen anderen Menschen antun können, erscheinen ließen. Nur mit viel Glück und durch die Courage eines Generals, der einen Führerbefehl zum Durchhalten nicht befolgte, entkam er dem tödlichen Kessel von Smolensk. Auch dank eines russischen Panjepferdes, an dessen Schwanz er sich festhielt und durch den Schlamm mitziehen ließ. Die Lastwagen und sonstigen Fahrzeuge steckten fast alle fest. Und dank einer Russin, die dem jungen Feind, der ihr Sohn hätte sein können, der völlig erschöpft und krank war, ein halbes Pfund Zucker schenkte! Kaum vorstellbar, woher sie das nach der zweimaligen ‚Feuerwalze’ des deutschen Militärs noch hatte und bereit war abzugeben. Später sprach er nicht mehr so oft darüber, keiner wollte mehr davon etwas wissen. Und es gab leider genügend Politiker, die vom Schluss-Strich-Ziehen schwafelten. Dass sehr viele Nazis wieder in Amt und zu Würden kamen, einer der Theoretiker und Verfasser der Nürnberger Rassegesetze, Hans Josef Maria Globke, sogar als Staatssekretär unter Adenauer agieren konnte, erfuhr ich nach und nach in den sechziger und siebziger Jahren. 1956 hatte ich für diese Dinge noch keinen Blick oder sie wurden mir nicht nahegebracht. Mich interessierte dennoch die Welt und das Radfahren. Beide Ambitionen sollte ich – neben den historisch-politischen Erkenntnissen nach und nach – mein Leben lang beibehalten. So war auch in dieser Hinsicht die gemeinsame Tour mit dem Vater ein wichtiges Ereignis. Ergiebig bis heute, denn sie hat mir beim Aufschreiben manche Überraschungen und Entdeckungen bereitet; vom Revolutionär Harro Harring, einem Zeitgenossen Heinrich Heines und Carl-Ludwig Börnes (sie kannten sich), hatte ich zum Beispiel bis dahin noch nie gehört.
Reisen per Fahrrad
Mein Vater, staatlich geprüfter Dentist, der sich später Zahnarzt nennen durfte, hat nach dem Krieg mit wenigen Mitteln seine 1939 gegründete Praxis wieder flottgemacht und musste oft, um Material einzukaufen, weit mit dem Fahrrad fahren. Viele Patienten bezahlten mit Naturalien und manches Schmuckstück wurde zur Zahnkrone umgearbeitet. Über den Beruf meines Vaters kam ich zu Hause in Kontakt mit zwei interessanten Firmen.
Auf unserer Radtour kamen wir durch Brackwede und Bielefeld. In Brackwede prangte an einem großen Gebäude der Schriftzug Graphia Hans Gundlach. Der damalige Inhaber, noch ein recht junger Mann, fuhr gern mit einem offenen Sportwagen durch das Dorf, man erzählte sich hinter vorgehaltener Hand Geschichten über gewisse Eskapaden. Im Jahr 1847 hatte ein Ernst Ludwig Gundlach eine Buchbinderei und eine Handvergolderei in Bielefeld gegründet. Im Jahre 1874 begann die Produktion von Verpackungen, Faltschachteln und Kartonagen. Außerdem erschienen die ersten Ausgaben der Deutschen Nähmaschinen-Zeitung und Radmarkt. Fahrräder (Rabeneick, Vaterland, Dürkopp, die auch Motorräder und Motorwagen herstellten) und Nähmaschinen (Dürkopp, aber auch Phoenix, Adler, Anker) bedeuteten beide neben der Tuchmacherei (Seidensticker) Schwerpunkte der heimischen Industrie. 1900 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Im Jahr 1905 war Gundlach die erste Firma deutschlandweit, die eine Offsetmaschine aufstellte, 1923 begann man damit, Banknoten zu drucken. (Einfach so? So steht es in wikipedia. Da fragt man sich glatt, warum andere das nicht auch gemacht haben, heute scheint es die EZB so zu handhaben…). 1928 schied Hans Gundlach aus dem Vorstand aus und gründete ein Jahr später die Firma Graphia in Brackwede. Im Jahr 1935 überließ der Oetker-Konzern seine in der Druckerei Gundlach hergestellte Zeitung ‚Westfälische Neueste Nachrichten’ der NSDAP, die diese mit der parteieigenen Zeitung ‚NS-Volksblatt für Westfalen’ vereinigte. Das Eigentum an der Zeitung und damit die Abgabe der wirtschaftlichen Kontrolle ging am im April 1940 an die NSDAP über. Im Gegenzug erhielt Gundlach Druckaufträge der Partei. Weitere Verwicklungen der Firma werden im Zusammenhang mit der Geschichte der Firma Oetker während der Nazizeit deutlich. Einer der größten Aufträge von Gundlach in der Zeit war ein Auftrag des Zigarettenherstellers Reemtsma, eine Million Alben für Sammelbilder herzustellen.
Bekanntschaft mit Gundlach als Verbündeter Oetkers
Im September des Jahres 1933 starb Louis Oetker, der Manager Richard Kaselowsky wurde in dieser Zeit Oetker-Chef. Kaselowsky war Mitglied im ‚Freundeskreis Reichsführer SS Heinrich Himmler’. Er spendete mehrmals an die NSDAP; zwei Großspenden von 40.000 Reichsmark aus den Jahren 1943 und 1944 sind bekannt. Im Jahr 1935 überließ der Oetker-Konzern unter Führung Kaselowskys seine in der Druckerei Gundlach hergestellte Zeitung ‚Westfälische Neueste Nachrichten’ der NSDAP, die diese mit der parteieigenen Zeitung ‚NS-Volksblatt für Westfalen’ vereinigte. Geld floss für diese Transaktion zunächst keines, zumal das Eigentum an der Zeitung und damit die Abgabe der wirtschaftlichen Kontrolle erst am 1. April 1940 in das Eigentum der NSDAP überging. Im Gegenzug erhielt Gundlach Druckaufträge der Partei.
Die Kriegswirtschaft konnte der Firma anfangs nichts anhaben. Im Gegenteil Puddingpulver gab es für einen separaten Abschnitt der Lebensmittelkarte. Zudem profitierte Oetker zunehmend von Staatsaufträgen: bei Gundlach wurden Lebensmittelmarken und sonstige Formulare für die NS-Bürokratie gedruckt. Ein erheblicher Teil des Firmenumsatzes war dadurch gesichert. Im Jahr 1937 bekamen dreißig Unternehmen in Deutschland von der Deutschen Arbeitsfront die Auszeichnung Nationalsozialistischer Musterbetrieb. In der Region Ostwestfalen wurde neben dem Kaffeehersteller Melitta (über die rüden Geschäftsmethoden dieser Firma sollte man Reportagen von Günter Wallraff lesen) auch Oetker ausgezeichnet. Die Musterbetriebe waren in einem Wettbewerb ermittelt worden. 1938 bekam das Unternehmen ein Leistungsabzeichen für die vorbildliche Förderung der Einrichtung Kraft durch Freude.
Für die Soldaten wurden Verpackungen mit besonderen Aufschriften hergestellt: Wehrmachtspackung, Dr. Oetker Puddingpulver, Vanille-Geschmack, für Pudding und süße Suppen. Inhalt 1 x 10 kg. Trocken lagern! Solche Verpackungen, die bei Gundlach fabriziert wurden, eine Firma, die heute noch im Verpackungsgeschäft tätig ist, sind erhalten geblieben, sodass es Beweise gibt.
Für Oetkers Gundlachfirma ergaben sich bei den Nazis profitable Möglichkeiten. 1935 fand der unfreiwillige Verkauf der ‚Westfälischen Neuesten Nachrichten’ (Gundlach) an die NSDAP statt. Der Vorstand der Gundlach AG machte sich Gedanken, wie die daraus resultierenden Verluste ausgeglichen werden konnten. Fündig wurde man auf dem Zeitschriftenmarkt. Mit zwei Blättern, die beim NS-Volksblatt-Verlag gedruckt wurden, verhandelte man, darunter dürfte das noch im gleichen Jahr bei Gundlach erscheinende ‚Gaublatt des Deutschen Frauenwerkes unter Führung der NS-Frauenschaft Gau Westfalen-Nord’ gewesen sein. Darüber hinaus hatte man die Blätter von drei nicht arischen Verlegern im Auge, die ihre Zeitungen abgeben mussten. Das Marktumfeld für einen expansionswilligen und liquiden Verlag wie Gundlach war günstig. Jeder Kulturschaffende im Deutschen Reich unterlag seit 1933 der Zwangsmitgliedschaft in der Reichskulturkammer. Verleger mussten der untergeordneten Reichspressekammer beitreten (Schriftsteller der Reichsschrifttumskammer). Da Nichtariern die Mitgliedschaften verwehrt blieben, wurden faktisch rund 1.500 Verlegern die Verlagsrechte an ihren Zeitschriften entzogen. Im April 1936 bekräftigte Max Amann als Präsident der Reichspressekammer ausdrücklich in einer Anordnung, dass nur Mitglied der Reichspressekammer sein könne, wer seine arische Abstammung bis zum Jahr 1800 nachzuweisen in der Lage sei. Das verschärfte den Druck. Jüdische Verleger befanden sich schon seit 1933 in Zwangslagen, mir denen bald alle nicht arischen Gewerbetreibenden, Freiberufler und Immobilienbesitzer konfrontiert waren. Die Rechte an Zeitschriften, die von jüdischen Verlegern oder Gegnern des NS-Regimes herausgegeben wurden, waren deshalb billig zu erwerben.
Judenfreier Zeitschriftenmarkt und arisierte Zahmedizin
Ein zweijährlich erscheinendes Kompendium verzeichnete 1935 lediglich drei Zeitschriften aus dem Verlag der E. Gundlach AG: ‚Büromaschinenmechaniker’, die ‚Deutsche Nähmaschinen-Zeit’ und ‚Radmarkt und Reichsmechaniker’, hinzu kam das illustrierte ‚Westfalen im Bild’. Vier Jahre später listete die letzte während der Nazizeit erschienene Ausgabe von ‚Sperlings Zeitschriften- und Zeitungs-Adreßbuch’ zehn Titel auf. Neu hinzugekommen war unter anderen das Dental-Magazin. Dies war das Ergebnis einer Reihe von Zukäufen und Verschmelzungen, mit denen Gundlach sein Zeitschriftensortiment (heute würde man sagen: Portfolio) deutlich ausbaute. 1935 übernahm die Firma das Dental-Magazin aus dem Vorbesitz der Louis Borchardt-Verlagsgesellschaft mbH, einem jüdischen Verlagshaus. Übernehmen ist einer der Verschleierungsbegriffe. Die Geleitworte zur ersten Neuausgabe sprachen vom Gemeinschaftsgedanken im Dentalfach und davon, dass eines der bedeutendsten Gebiete der Volksgesundheit fortan vor gegnerischen Einflüssen geschützt werden müsse.
Das Dental-Magazin gibt es noch heute. Es ist eine Zeitschrift aus dem Hause des Verlages, in dem auch die zm, die Zahnärztliche Mitteilungen erscheinen, die das offizielle Mitteilungsblatt der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Zahnärztekammern e.V. sowie der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung sind. Beide Zeitschriften dürften mir in den fünfziger Jahren vor Augen gekommen sein, da die zm quasi Pflichtlektüre für alle Zahnärzte waren und das Dental-Magazin zusätzliche abonniert wurde oder ab und zu ein Werbeexemplar bei uns im Briefkasten landete. Da ich alles las, was irgendwie gedruckt war, schaute ich mir auch diese Blätter an (nicht nur ‚stern’, ‚Quick’, ‚Kristall’ und ‚Hör zu’). Allein schon wegen der grausigen Gebissabbildungen… Den Spiegel las ich erst später, bis ich entdeckte, wie reaktionär der in Wirklichkeit war.
Wenn ich die Gerüchte und das Wissen der Anwohner und auch meiner Familie über diese Firmen vergleiche mit dem, was diese Firmen taten und tun, so kann ich nur sagen: damals wusste man wenig Bescheid und schaute selten hinter die Kulissen. Ob sich das heute geändert hat? Immerhin haben wir mehr Möglichkeiten, uns sachkundig zu machen.
Wie es nach dem Krieg weiterging
Im Jahre 1949 hatte der Oetker-Enkel Richard Kaselowsky Junior die Mehrheit an der Gundlach AG übernommen, und er wurde Mitglied des Vorstands.
Die Gundlach-Holding hat im Jahr 2009 alle Geschäftsanteile an die Messedruck Leipzig GmbH verkauft. Um den Anforderungen durch die Globalisierung gerecht zu werden, wurde ein neues Werk in Dubai gegründet. Die Firma heißt Gundlach Packaging Dubai Multi Commodities Centre. Es handelt sich um ein Joint-Venture zwischen Gundlach als Mehrheitseigner mit siebzig Prozent und der staatlichen Unternehmensgruppe DMCC. Das Werk soll zunächst Verpackungen und Umhüllungen für Tee produzieren. Vom Dorf nach Dubai, das nennen sie Globalisierung.
Ich vermute, wenn Gundlach heute im vorderen Orient, in Abu Dhabi und Umgebung arbeitet, sollte es nicht wundern, wenn dort auch Soldaten damit versorgt werden, oder Milizen, oder angebliche Rebellen, oder IS-Kämpfer. Die mögen auch Süßes! Sogar noch, bevor sie ins Paradies kommen.
Die Degussa, später EVONIK
Eine weitere Firma ist höchst interessant, mit der ich durch den Beruf meines Vaters in mittelbaren Kontakt kam: Die Degussa. Die Evonik Degussa GmbH (bis Ende 2006 Degussa AG) ist ein in der Spezialchemie tätiger Konzern mit Sitz in Essen und seit 2006 Teilkonzern der ebenfalls in Essen ansässigen Evonik Industries AG. Vorgängergesellschaften waren die Degussa-Hüls AG und SKW Trostberg AG. Die Degussa war ein Frankfurter Traditionsunternehmen und vor allem bekannt als Goldscheideanstalt. Der Name des Konzerns Degussa ist ein Kurzwort für ‚Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt’. Jeder Zahnarzt und jede Zahnärztin bekam und bekommt auch heute noch mit der Degussa zu tun, wenn Gold und Silber benötigt wird. Auch jeder, der bei seiner Bank einen mehr oder weniger großen Gold-, Silber- oder Platinbarren erwirbt (aber Vorsicht: siehe Brüder Grimm: Hans im Glück!). Die Degussa war stark in die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes verwickelt, unter anderem in die Verfolgung und Beraubung der Juden, in die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung, in die Zwangs- und Sklavenarbeit und in die fabrikmäßige Massenvernichtung der Juden. Eine ihrer Tochterfirmen (Degesch – ‚Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH’) lieferte Zyklon B, das Gas, mit dem die Juden in Auschwitz vergast wurden. Zyklon B ist die Bezeichnung für ein 1922 bei der Firma Degesch unter der Leitung von Fritz Haber entwickeltes Schädlingsbekämpfungsmittel, dessen Wirkstoff Blausäure (chemisch Cyanwasserstoff, HCN) als Gas austritt. Beim Menschen wird dieses Gas wirksam, indem es nach wenigen Atemzügen die Zellatmung der Körperzellen zum Stillstand bringt (innere Erstickung). Zwischen 1942 und 1944 wurde es im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau in großem Umfang zu industriell organisiertem Massenmord benutzt; auch in mehreren anderen Konzentrationslagern wurden Lagerinsassen damit getötet. Die Bezeichnung für das Gift ist zu einem der Synonyme für die Technik und Systematik des Holocaust geworden. In den Schmelzöfen der Degussa wurde auch Zahngold der Ermordeten verarbeitet. Ebenso soll Degussa spaltbares Material für das deutsche Uranprojekt beschafft haben.
Nach der ZyklonB-Produktion und dem Raubgold
1965 erwirtschaftete der Konzern bereits wieder einen Umsatz von 1,446 Milliarden DM und beschäftigt 12.400 Mitarbeiter. 1980 wurde das Unternehmen offiziell in Degussa AG umbenannt. Das Bankgeschäft, das die Degussa AG als zugelassene Devisenbank und Außenhandelsbank betrieben hatte, wurde vom Industriegeschäft getrennt und auf die neu gegründete Degussa Bank GmbH übertragen.
Abgesehen davon, dass also meine erste Zahnbrücke 1958 mit Degussagold hergestellt wurde (wohl nicht mehr mit jüdischem Zahngold), tauchten in den fünfziger Jahren zum Jahresende kleine Taschenkalender als Werbegeschenk bei uns zu Hause auf, die ich mir regelmäßig unter den Nagel riss. Denn innen lag ein Papierblatt, das mit einer dünnen, echten Goldfolie überzogen war. Mit Hilfe eines Bleistiftes oder eines dünnen Holzstabes konnte man damit zum Beispiel seinen Namen in Gold schreiben. Für einen Zehn- bis Zwölfjährigen ist das schon etwas. Nach dem Schreiben war an den betreffenden Stellen das Gold leider verbraucht, sodass hier noch nicht der Grundstein für meinen Reichtum gelegt werden konnte. Die Wahrheit über Degussa lernte ich erst in den achtziger Jahren kennen, ich glaube, das haben meine Eltern wirklich nicht gewusst. Es wurde selten hinterfragt, wer hinter den Konzernen steckte, weder hinter Oetker, Degussa, Deutsche Bank noch Dortmund-Hörder-Hüttenunion (Phönix) / Hoesch oder der Kanonenfirma Krupp, die heute als Thyssen-Krupp weiterhin Waffen bis hin zu U-Booten herstellt. Obwohl wir von ihnen umgeben und in das Wirtschaftssystem eingesponnen waren und sind. Aber wer weiß heute schon von all denen, die unser Wirtschaftssystem gut finden, wie der Kapitalismus wirklich funktioniert und wer unser Land regiert? Bücher darüber gibt es genug, zum Beispiel über die Firma Blackrock, und der Rest steht im Internet. Man müsste sich nur die Mühe machen…
Lernen wie Kapitalismus funktioniert
Man könnte natürlich auch eine linke oder linksliberale Zeitung abonnieren, anstatt sich vom Fernsehen oder gewissen Monopolzeitungen der Mainstreamindustrie desinformieren zu lassen und darüber zu ärgern…
Es geht nicht nur um Erinnerungen, die autobiografisch sind oder entsprechend gefärbt. Ich wäre ein schlechter Autor, wenn ich nicht auch manches erfinden würde und müsste, wobei historische Fakten natürlich erhalten bleiben. Wie sagt der Journalist Konstantin Ulmer in einem Artikel über Saša Staniši?, den Schriftsteller aus Visegrád, früher Jugoslawien, jetzt Bosnien, der heute in Deutschland lebt und schreibt: Dann war da noch die Katze Erinnerung, dieses unzugängliche Biest, das immer nur vorbei huschte, ohne dass man es zu greifen bekam. Doch vielleicht sollte man die flüchtige Katze Erinnerung auch einfach Katze sein lassen, unzugänglich nur kurz an einem Ort verweilend. Vielleicht reicht es manchmal, von ihr zu erzählen.
Das habe ich versucht zu tun.
Im April 2019 U. S.
Über unseren Autor:
Ulrich Straeter
Geb. 26. Juli 1941 in Dortmund, lebt und arbeitet seit 1968 in Essen
Diplom-Finanzwirt, Verleger, Schriftsteller
Veröffentlichungen zuletzt:
In: Thomas Bachmann (Hsg.): Schlafende Hunde VI,
Politische Lyrik, Verlag am Park, Berlin, 2019
In jenem ach so heißen Sommer
in: Ruhrgebietchen, Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop, 2018
Eickmeiers Traum und andere Geschichten, Brockmeyer Verlag, Bochum, 2014