Erinnerung an die Opfer des Holocaust an Sinti und Roma
12. September 2022
Dortmund, Gedenken, Sinti und Roma
Der 78. Jahrestag des 2. August 1944, das Gedenken an Sinti und Roma zusammen mit dem Bündnis Dortmund gegen Rechts und dem Landesverband der nordrhein-westfälischen Sinti und Roma in Dortmund hinterließ bei allen, die dabei waren, tiefe Eindrücke. Es wurde sowohl an die halbe Million Menschen, die als deutsche Sinti und Roma von den Nazis umgebracht wurden, erinnert als auch an jene aus anderen Ländern. Roman Franz vom Verband deutscher Sinti und Roma in NRW erinnerte daran: In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten noch in Auschwitz-Birkenau lebenden 4300 Sinti und Roma mit Hunden und Flammenwerfern in die Gaskammern getrieben. Niemand von ihnen überlebte diese Nacht in Auschwitz.
Die Brücke wurde auch zum Heute geschlagen. Die Verweigerung der Aufnahme von Sinti und Roma als Flüchtlinge aus der Ukraine sei eine Schande, betont Roman Franz. Noch immer wagten es sich Roma und Sinti in Deutschland oft nicht, sich zu outen. Sogar Charlie Chaplin und Pablo Picasso verbargen ihre Zugehörigkeit zu den Sinti und Roma. Faktenreich und erschütternd waren die Ausführungen von Helmut Manz (VVN-BdA).
Rom heißt Mensch
Rede von Helmut Manz Holocaust-Gedenktag für die ermordeten Sinti und Roma am 2. August 2022 in Dortmund
Heute ist der europäische Holocaust-Gedenktag für die ermordeten Sinti und Roma. Das Datum erinnert an die Vernichtung des sogenannten „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau am 2. August 1944. Unter den an diesem 2. August Ermordeten waren vielleicht auch einige der Sinti und Roma, die am 9. März 1943 von hier – von Dortmund – nach Auschwitz deportiert worden waren. Wir wissen es nicht. Außer diesem Stein hier erinnert nichts mehr an sie.
Der Stein ist ein Gedenkstein zum „ehrenvollen Gedenken an die Ermordeten“. Bis heute ist er auch ein Stein des Anstoßes, auf dessen Tafel auch geschrieben steht: „… den Lebenden zur Mahnung, stets rechtzeitig der Unmenschlichkeit entgegenzutreten.“
Die Mahnung ist aktueller als uns recht sein kann. Denn der Antiziganismus ist nach wie vor tief verankert. Und er ist nicht annähernd so geächtet wie der Antisemitismus. Der faschistische Völkermord an den Sinti und Roma ist im kollektiven Gedächtnis kaum präsent. Sein Name, das Romanes-Wort Porajmos, – auf Deutsch: „das Verschlingen“ – ist im Land der Täter nur sehr wenigen ein Begriff.
An historischem Wissen fehlt es nicht. Am 16. März 1997 hat der damalige Bundespräsident Herzog den heutigen Forschungsstand in die klaren Worte gefasst: „Der Völkermord an den Sinti und Roma ist mit dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz, mit dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden.“
Für die allermeisten Überlebenden kamen diese deutlichen Worte des Bundespräsidenten zu spät. Sie wurden auch nach 1945 als „Asoziale“ und „Kriminelle“ stigmatisiert und schikaniert. Von „Wiedergutmachung“ kann keine Rede sein. Noch 1956 rechtfertigte der Bundesgerichtshof den Naziterror vor 1943, weil er angeblich noch nicht rassistisch motiviert, sondern von den – Zitat – „Zigeunern“ selbst durch „eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ veranlasst gewesen sei. In unerträglichem Herrenmenschenton wurde den Opfern höchstrichterlich bescheinigt, dass ihnen „vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum“ fehlten, „weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen“ sei.
Für die Überlebenden war der Rechtsnachfolger des Mörderstaates alles andere als ein Rechtsstaat. Ihre Behandlung durch die bundesdeutschen Behörden ist zutiefst beschämend. Der von dem jüdischen Überlebenden Ralph Giordano geprägte Begriff der zweiten Schuld trifft ohne Wenn und Aber auch auf das Unrecht zu, das den Sinti und Roma nach 1945 angetan wurde.
Heute – in unserer Gegenwart – darf die NPD ungehindert plakatieren: „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma!“ Das Verwaltungsgericht München kann keine Volksverhetzung erkennen. Die Verdrängung der Vergangenheit bereitet den Boden für neue Unmenschlichkeit. Immer noch und schon wieder. Nicht einmal dieser Gedenkort für die Toten hier ist vor antiziganistischen Anschlägen sicher!
Die verdrängte Vergangenheit vergeht nicht. Erst die Erinnerung an die historische Schuld eröffnet die befreiende Perspektive einer anderen menschlichen Zukunft. Das ehrenvolle Gedenken an die Ermordeten und die Mahnung an die Lebenden sind zwei Seiten einer Medaille. Der Medaille der Menschlichkeit.
Das ehrenvolle Gedenken an die Ermordeten erfordert nicht mehr als den Mut zur historischen Wahrheit. Die Ermordung der Sinti und Roma war rassistischer Massenmord. Das individuelle Verhalten oder die tradierte Lebensweise der Opfer dienten allenfalls als Vorwand. Sie wurden ohne Ansehung der Person enteignet, entwürdigt und ihres Lebens beraubt. Sie waren Opfer rassistischer Verfolgung. Opfer faschistischen Rassenwahns.
Ob und inwiefern es sich bei den Sinti und Roma tatsächlich um so etwas wie eine Rasse handelt, ist in diesem Zusammenhang völlig unerheblich. Die Mörder hatten die Definitionsmacht. Bei der jüdischen Bevölkerung ließ sich die angebliche Rasse an der Religionszugehörigkeit der Großeltern festmachen. Bei den sogenannten „Zigeunern“ war die Erfassung nicht so einfach. Es brauchte Experten – sogenannte „Ziganologen“ – die durch rassistische Untersuchungen wie Schädelmessungen eine wissenschaftlich verbrämte Datenbasis für den Völkermord bereitstellten.
Die Bestimmung der Rasse schrieb mit der vermeintlichen Herkunft zugleich die Zukunft fest – im Rahmen eines rassistischen Menschenzuchtprogramms der „Aufartung durch Ausmerzung“. Williger Vollstrecker war eine menschenverachtende Medizin, die die „rassenhygienische“ Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen als „Heilung“ eines imaginären „Volkskörpers“ verklärte. Für die als asoziale und kriminelle Rasse stigmatisierten „Zigeuner“ bedeutete diese perverse Heilung das Todesurteil. Die Vernichtung durch Arbeit, Erschießungskommandos und Gaskammern.
„Im Dritten Reich hungert und friert niemand. Wer es dennoch tut, kommt ins KZ.“ Dieser Flüsterwitz aus den faschistischen Vorkriegsjahren enthüllt die ungeheure soziale Kälte der sogenannten „Volksgemeinschaft“. Die angebliche Armutsbekämpfung war in Wahrheit brutalste Armenbekämpfung. Besonders hart betroffen war die angeblich asoziale Rasse der sogenannten „Zigeuner“. Alle gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Diskriminierungsmaßnahmen wurden ausdrücklich oder automatisch auch auf sie übertragen. So waren beispielsweise Liebesbeziehungen zu sogenannten „Ariern“ lebensgefährliche „Rassenschande“.
Am 8. Dezember 1938 stellte Himmler in einem Runderlass eine „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse“ in Aussicht. In diesem Erlass ist auch schon ausdrücklich von der „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ die Rede. Während des zweiten Weltkriegs wurde auch diese „Endlösung“ immer hemmungsloser in die Tat umgesetzt. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion wurden die Roma wie Freiwild von den Einsatzgruppen gejagt und vom Kleinkind bis zur Greisin ermordet. Der berüchtigte Kommissarbefehl war der Freibrief für die Völkermordroutine. Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 markiert eine Etappe – nicht den Beginn – des Porajmos. Nach allem, was wir heute über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten und auf dem Balkan wissen, dürfte die vom Zentralrat der Sinti und Roma angenommene Zahl von insgesamt 500 000 Opfern wohl kaum übertrieben sein.
Heute gedenken wir aller Opfer des Porajmos, wenn wir uns an die Nacht der Unmenschlichkeit erinnern, die am 2. August 1944 über die Häftlinge des sogenannten „Zigeunerlagers“ in Auschwitz hereinbrach. Von ihnen hat niemand die Sonne des 3. August gesehen. Aber es gibt die erschütternde Erinnerung einer Überlebenden aus einem Nachbarlager:
„Es war schon fast dunkler Abend. Auf einmal wurde es hell wie am Tag und gleichzeitig ertönte ein schrecklicher Lärm. SS-Männer sind gekommen und haben die Menschen mit Flammenwerfern aus den Baracken im Lager B II e getrieben. Es waren sehr viele Kinder dabei gewesen. Das kleinste Geschöpf Gottes weiß, wenn es um sein Leben geht. Die Menschen wussten, dass sie in das Gas getrieben werden. Sie widerstanden mit Steinen, mit Stöcken, mit Gegenständen, die ihnen in die Hände fielen, wobei sie schrien, fluchten, brüllten und beteten. Die SS hetzte die laut bellenden Hunde auf die Menschen, sie griffen die Menschen an, die Verzweiflung war groß, der Lärm war schrecklich, die Kinder weinten nach den Müttern, die Mütter versuchten die Kinder zu beruhigen. In Birkenau wusste jeder, auch noch so jung, was der Tod bedeutet und das kleinste Kind wusste, was es bedeutet, wenn man mit Flammenwerfern in das Gas getrieben wird. Es gab keine Kinder im Zigeunerlager. Dort waren sie schon mit 5 Jahren Erwachsene, die wussten, dass sie dem Tod nicht entkommen können: So oder so werden sie ermordet.
Wir im Lager waren erstarrt vor Angst. Auch bleibt man nicht gleichgültig, wenn 4300 Menschen im Nachbarlager mit so drastischen Methoden, mit offenem Feuer aus Flammenwerfern in den Tod getrieben werden. So unerwartet, wie diese Aktion begonnen hatte, so unerwartet ist auf einmal Ruhe eingekehrt. Und das konnte man auch kaum aushalten.“
Kann die Nacht der Unmenschlichkeit jemals vorbei sein? Ich kann diese Frage nur mit einer alten jüdischen Erzählung beantworten.
Ein Rabbi fragte seine Schüler: „Wie erkennt man, dass die Nacht zu Ende geht und der Tag beginnt?“
Die Schüler fragten: „Ist es vielleicht dann, wenn man einen Hund von einem Kalb unterscheiden kann?“ „Nein“, sagte der Rabbi.
„Ist es dann, wenn man einen Feigenbaum von einem Mandelbaum unterscheiden kann?“ „Nein“, sagte der Rabbi.
„Wann ist es dann?“, fragten die Schüler.
„Es ist dann“, sagte der Rabbi, „wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und deine Schwester und deinen Bruder siehst.“
Rom heißt Mensch. Einfach nur Mensch – ohne Habe, ohne Lobby, ohne Staat. Die Achtung der Sinti und Roma war und ist der Prüfstein der Menschlichkeit.