Was der Inlandgeheimdienst mit einem Dortmunder Bürger und dem Schwur von Buchenwald macht – Brief an die Medien in NRW
28. Februar 2020
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir werden in diesen Tagen in den NRW-Medien täglich mit Berichten über das Vorgehen der Stasi gegen Dortmunder Bürgerinnen und Bürger überschwemmt. Ich nehme an, die Dortmunder Lokalpresse wird von bundesdeutschen Geheimdiensten mit Material zu diesen Berichten versorgt. Nicht versorgt wird sie mit Berichten über ihr eigenes Vorgehen gegen Bundesbürger/innen. Ich bin Opfer eines solchen Vorgehens und stelle Ihnen hiermit ausführliche Informationen zur Verfügung. Wie in folgendem Text erfahren können, werden „Extremisten“ wie mir strafbare Handlungen vorgeworfen wie: Geheime Tätigkeiten für fremde Mächte, Gefährdung der BRD durch Gewalttaten, Verstoß gegen die Völkerverständigung und Bestrebungen gegen die FDGO (siehe unten „Geheimes und „Veröffentlichungsfähiges“). Der Staatsanwalt wurde jedoch nicht tätig.
Ich habe es oft genug erlebt, dass örtliche CDU-Leute im ganzen Land z. B. gegen die Saalvergabe angingen, wenn ich dort auftrat, oder das Vorgehen gegen mich in Lüdenscheid, wo meine beschlossene Beschäftigung beim Heimatverein zurück genommen wurde, als die CDU drankam und VS-Material verwandte. Es bedurfte eines erheblichen Kampfes der anständigen Leute, um mich durchzubringen, auf dass ich den ehemaligen Zwangsarbeiter/innen Informationen zukommen lassen konnte, die diese benötigten, um eine karge Entschädigung zu erhalten.
Bekanntlich wurde gegen die VVN-BdA der Entzug des Status der Gemeinnützigkeit seitens der Berliner Finanzbehörde ausgesprochen; begründet wurde dies damit, dass im bayerischen Verfassungsschutzbericht die VVN-BdA als „extremistisch beeinflusst“ dargestellt wird – in keinem weiteren Landesbericht ist dies der Fall. Und die angebliche „Beeinflussung“ wurde begründet mit meiner Person (ich bin in der Bundesleitung der VVN-BdA tätig). Ich werde wieder und wieder in den VS-Berichten zitiert mit allen möglichen Behauptungen, die erstunken und erlogen sind.
Behauptungen ohne Beweise
Meine Versuche, vom bayerischen Verfassungsschutz Belege für die Behauptungen über mich zu erlangen, fruchteten nicht. Einsicht in die Akten des Inlandgeheimdienstes bekommen die beobachteten und verleumdeten Personen nicht. Allerdings passierte folgendes: Es gab Bürgerinnen und Bürger, die klagten vor Gericht, auf dass man die Beobachtung ihrer Person einstellt. Und in den folgenden Verwaltungsgerichtsverfahren – so in Hessen und in Bayern – musste der Verfassungsschutz sich dann offenbaren. In einer Einlassung des VS Hessen vor den Verwaltungsgerichten des Landes im Verfahren Silvia Gingold vs. Land Hessen wurde aus Akten von mir zitiert: „Die VVN-BdA duldet Kommunisten in ihren Reihen. So führte der Bundessprecher Ulrich Sander in seiner Rede auf dem uz-Pressefest 2014 (Pressefest der Zeitung „unsere zeit (uz), Organ der „Deutschen Kommunistischen Partei (DKP)) in Dortmund u. a. aus: ‚Viele Angehörige der Hinterbliebenen des deutschen Widerstandes gehören der VVN-BdA an. Sie haben auf dem letzten Pressefest hier in Wischlingen die neue Zeitzeugenorganisation ‚Kinder des Widerstandes‘ auf den Weg gebracht. Auch von diesen Antifaschistinnen und Antifaschisten grüße ich heute. Unter ihnen sind viele Kommunistinnen und Kommunisten, denn die Arbeiterbewegung war besonders aktiv im antifaschistischen Widerstandskampf. (AZ vom 7.10.16 L13-257-S-530.005-30/16)‘“
„Buchenwaldschwur ist Kapitalismuskritik und damit verfassungsfeindlich“
Weiter wird aus „meinen“ Akten zitiert: „Die VVN-BdA nimmt (…) mit ihren Aktivitäten am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess mit dem Ziel teil, grundlegende Veränderungen des Systems in Richtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung durchzusetzen. Die VVN-BdA beruft sich hierbei auf den ‚Schwur der Häftlinge von Buchenwald‘, der sich wiederum auf die (…) kommunistische Faschismustheorie stützt. Diese bezeichnet den Kapitalismus als eigentlichen Urheber des Faschismus. ‚Demokraten‘ seien demnach nur jene, die sich im Sinne dieser Theorie als ‚Antifaschisten‘ betätigen. Konkludent lehnt der Verband also die ‚kapitalistische‘, mithin freiheitliche demokratische Grundordnung ab. Zu diesem Zweck duldet der Verband auch auf Funktionärsebene Extremisten in seinen Reihen und steht ‚insofern unter orthodox-kommunistischem Einfluss, insbesondere der DKP‘.“
Im bekannten Schwur, den die überlebenden Häftlinge des KZ Buchenwald nach ihrer Befreiung und Selbstbefreiung im April 1945 ablegten, heißt es:
„Wir schwören deshalb vor aller Welt auf diesem Appellplatz, an dieser Stätte des faschistischen Grauens: Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“ Diesen großartigen Text, den 21.000 befreite Häftlinge im April 1945 auf dem Appellplatz in Buchenwald schworen, legen die VS-Ämter als verfassungsfeindlich aus! Ich freue mich, dass dieser Schwur jedes Jahr am Karfreitag auf der Gedenkveranstaltung in der Dortmunder Bittermark gezeigt wird. Und damit machen sich dann die Kundgebungsteilnehmer/innen verdächtig?
Doch der Gipfel der Parteinahme gegen Antifaschisten wurde vom bayerischen Oberverwaltungsgericht in München im Februar 2018 erreicht, als es die Entscheidung des bayerischen Verfassungsschutzes gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) – die immer wieder mit Zitaten von mir „belegt“ wurde – für sakrosankt erklärte, eine Anfechtung des Urteils nicht zuließ und somit sich wie eine höchstrichterliche Instanz gebärdete. Der Münchner Rechtsanwalt Hans E. Schmitt-Lermann hat den Spruch des Gerichtes, die schriftlichen und mündlichen Begründungen genau analysiert. Sein Fazit:
VS bestimmt über Verwaltungsgerichtsurteile
Die 22. Kammer des Verwaltungsgerichts München hatte 2014 ihren vom bayerischen Verwaltungsgerichtshof vier Jahre darauf bestätigten Spruch gefällt, obwohl auch ihr klar sein musste, dass nun der neuen bundesdeutschen Abgabenordnung (AO) zufolge – die die Aussage eines VS-Amtes als gültig für alle deutschen Finanzämter bestimmte -, ein Tsunami gegen die VVN-BdA auch außerhalb Bayerns losbrechen würde. Deren diskriminierende Einordnung unter »extremistisch beeinflussten Organisationen« unterstützte die Kammer in der mündlichen Verhandlung sowie in der schließlichen Urteilsbegründung vornehmlich damit, dass laut Verfassungsschutz »Antifaschismus« ein kommunistischer und damit verfassungsfeindlicher Kampfbegriff war und bleibe, kein realer und schützenswerter Ordnungsfaktor mit Verdiensten sei. 30 Prozent der VVN-BdA Funktionäre seien DKP-Mitglieder. Anders als im handelsrechtlichen Gesellschaftsrecht könnte man, so die Kammer, daher schon von einem politisch beherrscht Unternehmen sprechen. Zudem habe man in der VVN-BdA auch bekannte Mitglieder der Partei DIE LINKE ausgemacht, die ebenfalls im bayerischen Verfassungsschutzbericht wegen verfassungsfeindlicher Tendenzen aufgeführt ist. Die Tatsache, dass allein der strafrechtlich erfasste Widerstand gegen die Hitlerdiktatur dereinst zu 85 von Kommunisten und zehn Prozent aus anderen Parteien der Arbeiterbewegung getragen worden ist, die Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, herausfand, ist für Verfassungsschutz und Justiz scheinbar irrelevant.
Das Verbotsurteil gegen die KPD aus der Adenauer Zeit wirkt weiter. Dass der Schwur von Buchenwald vom 11. April 1945, dem sich die VVN-BdA verpflichtet fühlt und den Gerhard Schröder als amtierender Bundeskanzler auf einer Feierstunde im ehemaligen Konzentrationslager auf dem Ettersberg in Weimar als ein »Basisdokument unserer Demokratie« rühmte, wird in Bayern offensichtlich als ein Angriff vor allem auf die »freie Wirtschaftsordnung« empfunden.
Weiter wird vom höchsten bayerischen Verwaltungsgericht behauptet, dass die von der VVN-BdA verantwortete Losung »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!« bereits ein klarer Aufruf zu verfassungswidriger Gewalt sei. Behauptet wird, dass dieser Aufruf beispielsweise in Dresden zur Beeinträchtigung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Demonstrationsfreiheit gegen Gruppen wie die NPD in Form von »Blockaden« erfolgt sei. Zu den dem Münchener Gericht suspekten Blockierern hatten übrigens auch der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow sowie viele weitere Prominente gehört. Dies nebenbei. Dem Sozialdemokraten Schröder wird zudem vom bayerischen Verwaltungsgericht unterstellt, mit seinem seinerzeitigen Aufruf zu einem »Aufstand der Anständigen« den antifaschistischen, verfassungsfeindlichen Tendenzen der VVN-BdA Nahrung gegeben zu haben. Kriminalisiert werden ebenso von den Münchnern die regelmäßigen Demonstrationen gegen Traditionstreffen der Gebirgsjäger, die im NS-okkupierten Griechenland gegen Zivilisten eingesetzt worden sind. Die Proteste auf dem Hohen Brenten bei Mittenwald habe VVN-BdA zumindest in Wort und Schrift unterstützt. Ulrich Sander habe hier führend mitgewirkt.
Das Verwaltungsgericht akzeptierte das Argument vom »tiefbraunen« Gründungspersonal des Verfassungsschutzes nicht. Unwichtig sei auch, dass sich inzwischen zwar Ministerien, Universitäten, Fach- und Berufsverbände sowie etliche Unternehmen mittlerweile befleißigten, ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten – was die VVN seit ihrer Gründung 1947 tat.
Geheimes und „Veröffentlichungsfähiges“
Eine weitere Drucksache zum Thema kam durch die Partei Die Linke ans Licht. In der Bundestagsdrucksache 19/351 antwortet die Bundesregierung auf eine Anfrage der Partei „die linke“ über die „FDGO-Konformität von Antifaschismus und Antikapitalismus“. Die Regierung hält antifaschistische und antikapitalistische Aktivitäten für nicht extremistisch und nicht verfassungsfeindlich. (Na prima!) Es sei jedoch dann von linksextremem Antifaschismus und Antikapitalismus und damit von Verfassungsfeindlichkeit auszugehen, wenn Verfassungsfeinde sich des Themas annehmen. Wie der VS zur Einstufung „verfassungsfeindlich“ gelangt, das sei nicht „veröffentlichungsfähig“. Es „überwiegt das öffentliche Geheimhaltungsinteresse“. Das Land Hessen hält es wenigstens für „veröffentlichungsfähig“, die Paragraphen aufzuzählen, die es z.B. gegen Silvia Gingold anwendet.
Werden die Paragraphen und ihre Absätze im Wortlaut herangezogen, so ergeben sich folgende absurden Beschuldigungen gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten und gegen die unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger Silvia Gingold und Ulrich Sander:
– „Sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht,“
– „Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt (…) auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden,“
– „Bestrebungen (…), die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), gerichtet sind“.
– „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ (aus dem Hessischen Gesetz über das Landesamt für Verfassungsschutz. (HLfVG, § DS2)
Jesse – der geheime Autor der Urteile
Wer ist nun der Fachmann, der Jahr für Jahr meine Zitate auswertet und in die Berichte der VS-Ämter einspeist? Es ist u.a. Eckart Jesse, langjähriger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und nun ehemaliger Professor aus Dresden. der sich den Kampf gegen die »Vergangenheitsbewältigung als Strategie linker Verfassungsfeinde« im Allgemeinen und gegen die VVN-BdA im Besonderen zur Lebensaufgabe gemacht hat. Leute wie er bedauern seit Jahren, dass der bayerische Landesverfassungsschutzbericht mit seiner Denunzierung der VVN-BdA »bisher allein geblieben« ist. Seine Polemiken finden sich teils wörtlich im Urteil der Münchener Kammer wieder. Und dies auch in anderen VS-Akten im ganzen Land, in denen immer wieder meine Person auftaucht. Die Beobachtung meiner Person erfolgt seit meinem 20. Lebensjahr – immerhin bin ich nun 78 Jahre alt.
1966 wurde über die Frage diskutiert, ob man die KPD zulassen soll. Es entstand ein Buch, in dem auch ich vorkam, und eine TV-Serie. Die Beobachtung hunderttausender Bürger und die Verfolgung, Verurteilung und Inhaftierung von rund 10.000 Linken, Kommunisten und Antifaschisten in der Adenauer-Erhard-Kiesinger-Zeit hatten Panorama-Autoren kritisch beleuchtet. Die mutigen Sendungen von Panorama zur politischen Justiz in der Bundesrepublik wurden in dem Band von Lutz Lehmann „Legal und opportun“ im Voltaire-Verlag Berlin/West 1966 zusammengefasst. Im Vorwort heißt es „Schließlich wendet sich das Buch insbesondere gegen eine unerträglich Praxis politischer Verfolgung in der Bundesrepublik“ – unerträglich und nicht rechtsstaatlich. Diese Verfolgung wurde nie ganz beendet, wie die bis heute nicht aufgehobenen tausendfachen Berufsverbote belegen.
Schon 58 Jahre lang werde ich bespitzelt
In dem Band von Lehmann wird auch mein Fall abgehandelt. Schon in jener Zeit wurde meine Post überwacht, daraus erwuchs ein Verfahren wegen Einfuhr verfassungsfeindlicher Schriften. Bei einer Vernehmung im Amtsgericht Wiesbaden wurde mir bereits im Oktober 1964 vorgehalten, einzelne Exemplare von Zeitungen aus der DDR erhalten zu haben, für die Deutsche Friedens-Union gearbeitet zu haben, eine Rede auf einer Geschwister-Scholl-Gedenkfeier gehalten und gegen die Ermordung von Julian Grimau durch die Franco-Faschisten protestiert zu haben. All dies ging aus einer Akte aus Hamburg hervor, aus der der Amtsrichter mir vorlas. Ich hatte also schon damals nichts Unrechtes getan oder gesagt oder geschrieben. Aber man hielt es seitens des westdeutschen VS – und interessanterweise auch seitens des spanischen, damals faschistischen Geheimdienstes, damals Partner des VS – für erforderlich, mich zu beobachten. Und dies seit 58 Jahren. Dafür liegen mir Bestätigungen in Form von Briefen der Landesdatenschutzbeauftragten von NRW vor.
Nach all dieser Zeit sollte es doch möglich sein, dass auch die Presse einmal darüber berichtet: über den Inlandsgeheimdienst der BRD. Und nicht nur über die Stasi.
Das vollständige Dokument von Hans E. Schmitt-Lermann:
Eine mehr als trübe Quelle – Über Hintergründe der Attacken auf die Gemeinnützigkeit der VVN-BdA
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Sander
Dortmund
Auszug aus dem Buch des Panorama-Autors Lutz Lehmann
Auf Seite 140 von „Legal oder opportun“ beginnt der Bericht über die Bespitzelung Ulrich Sanders
„POSTKONTROLLE UND FILMZENSUR“
…Diese einer verfassungswidrigen Vorzensur außerordentlich ähnliche Tätigkeit des interministeriellen Ausschusses bleibt der Bevölkerung weithin verborgen, da nur den wenigen Importeuren der ohnehin nicht zahlreichen östlichen Filmproduktionen diese Schranken des Gesetzes die Wege versperren. Ähnlich ist es mit den millionenfach angehaltenen, geöffneten, beschlagnahmten und schließlich vernichteten Postsendungen, die ausschließlich sogenannte Hetzschriften enthalten, nämlich Zeitungen, Informations- und Propagandamaterial. In, wie es juristisch heißt, objektiven Verfahren wird die Verfassungswidrígkeit dieser Schriften festgestellt und die Beschlagnahme und Vernichtung durch richterlichen Beshluß verfügt. Die Adressaten dieser Sendungen erfahren davon im allgemeinen kein Wort.
DER FALL SANDER
Dennoch setzen auch hier zuweilen Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden ein, und zwar offenbar in den Fällen, wo ein Bürger der Bundesrepublik bereits in anderer Weise Verdacht erregt hat. Auch daraus
läßt sich schließen, daß ein dichtes Kontroll- und Überwachungsnetz über das Land gezogen worden ist. Ende 1964 wurden solche Ermittlungen gegen den Wiesbadener Journalisten Ulrich Sander, Mitglied
der Deutschen Journalistenunion, von der Staatsanwaltschaft in Frankfurt geführt. Über seine Vernehmung hat Sander das folgende Protokoll angefertigt:
Am Mittwoch, dem 7. Oktober 1964, ‚wurde ich zur Vernehmung vor das Amtsgericht Wiesbaden geladen, wo mir eröffnet wurde, daß gegen mich eine Strafanzeige wegen Einfuhr verfassungsfeindlicher Schriften
vorliege.
Dem Amtsgericht lagen Exemplare von ‚Wissen und Tat‘, einem Organ der illegalen KPD vor, die in Ost-Berlin von Leuten, die ich nicht kenne, an meine Adressen in Hamburg und in Wiesbaden abgesandt worden waren. Der Amtsrichter blätterte in einer Akte und erklärte, daß bereits früher an meine Hamburger Anschrift Schriften wie ‚Junge Welt‘ und ‚Wissen und Tat‘ gesandt worden seien.
Ich erklärte, daß mir die Absender unbekannt seien, und daß mir schließlich jeder unaufgefordert alles mögliche zusenden kann. Ich habe die Schriften ja schließlich nicht bestellt. Die Frage des Richters, ob ich Mitglied irgendeiner illegalen Vereinigung sei, verneinte ich.
Der Richter machte in diesem Zusammenhang auf die »Anlage 8« der Akte aufmerksam, die offensichtlich aus Hamburg stammt und in der festgestellt werden ist:
1. Sander hat einen DF U-Wahlaufruf unterschrieben;
2. Sander hat eine Rede auf einer Geschwister-Scholl-Gedenkfeier gehalten;
3. Sander hat eine Protesterklärung gegen die Ermordung von Julian Grimau Garcia unterschrieben.
Tatsächlich hat Sander, wie er erwidert, nie einen DFU-Wahlaufruf unterschrieben. Aber er gehört zu den Bürgern, Jugendfunktionären und Pfarrern, die zur Bundestagswahl 1961 in dem Flugblatt »Nicht die
Katze im Sack kaufen« Jungwähler aufforderten, die Kandidaten nach ihrer Meinung zur Außen- und Wehrpolitik der Bundesregierung zu fragen,
die das Flugblatt als verhängnisvoll bezeichnete. Tatsächlich hat er vor der linksorientierten ››Geschwister-Scholl-Jugend« auf einer Veranstaltung gesprochen, die von einem Teil der Hamburger Tagespresse durchaus positiv kommentiert wurde. Und wirklich protestierte er in
einem persönlichen Schreiben gemeinsam mit etwa zehn seiner Freunde bei der spanischen Vertretung in Hamburg gegen die Hinrichtung Grimaus. So wenig wie dieser Protest öffentlich erfolgt ist, so wenig hat er
sich mit all dem strafbar gemacht. Besonders merkwürdig ist dabei, wie das nichtöffentliche Protestschreiben an das spanische Generalkonsulat in Sanders Akte gelangen konnte. Jedenfalls hat die Kombination dieser
drei zum Teil falschen Überwachungsergebnisse der politischen Polizei im Herbst 1964 dazu gedient, das Ermittlungsverfahren 4 Js 400/64, begründet mit dem Verdacht eines Verstoßes nach § 93 StGB (Einfuhr staatsgefährdender Schriften), mit dubiosem Hintergrund zu versehen.
Das Verfahren ist am 9. November 1964 durch Verfügung des Oberstaatsanwalts beim Landgericht in Frankfurt eingestellt worden. Sander hat jedoch sein Vernehmungsprotokoll aus Protest gegen die Beschlagnahme seiner Post und das Registrieren seiner politischen staatsbürgerlichen Handlungen nicht unterschrieben mit der Begründung, durch seine Unterschrift würde er diese ungesetzlichen Dinge auch noch unterstützen. Da die Hüter der Verfassung der Bundesrepublik auch aus solcher Haltung auf kommunistische Gesinnung zu schließen gelernt haben, ist der Fall Sander vermutlich noch nicht abgeschlossen.