Neuausgabe von „Mörderisches Finale“ erschienen

29. März 2020

Die Neuausgabe von Ulrich Sander erscheint im März 2020.

Die Naziverbrechen in der Endphase des Krieges als Vorbereitung auf die Nachkriegszeit

Im vorliegenden neu und erweitert herausgegebenen Buch des Internationalen Rombergparkkomitee/Förderverein Gedenkstätte Dortmunder Steinwache sowie der VVN-BdA mit dem Titel „Mörderisches Finale“ werden zahlreiche Tatorte von Todesmärschen und Gestapo-Morden an Insassen von Haftanstalten kurz vor Kriegsende dokumentiert. Es war als erste Auflage 2008 das erste Buch dieser Art, und erst danach nahm sich die Geschichtswissenschaft des Themas an. Wir dokumentieren das schriftliche Referat, denn die Veranstaltung, auf der die Präsentation am 22. März 2020 in Essen erfolgen sollte, fiel wegen Corona aus.

In den letzten vier Monaten vor Kriegsende verschärften die Nazis noch einmal den Kurs ihrer historisch einmaligen Massenverbrechen. Sie ermordeten Zehntausende Häftlinge mittels „Todesmärschen“, Standgerichten und Massakern, die von der Gestapo ausgeführt wurden. Diese Morde wie auch die Massaker in den Konzentrationslagern entsprachen dem Nachkriegs- und Überlebenskonzept des deutschen Faschismus.

Die Verbrechen der Kriegsendphase stellten den letzten Abschnitt des Wirkens des NS-Mordregimes dar. Das Motiv für dieses Massenverbrechen im Frühjahr 1945 mit geschätzt 500.000 Todesopfern wird in den Publikationen unterschiedlich dargestellt. „Mörderisches Finale“1 fußt auf den Berichten von Geschichtsinitiativen und örtlichen VVN-BdA-Gruppen. Und diese sahen das Motiv der Täter vor allem in der Absicht, möglichst keine Antifaschisten zur Gestaltung eines demokratischen Nachkriegsdeutschlands übrig zu lassen. Zudem: Kurzfristig erschien dem NS-Regime die Möglichkeit gegeben, einen Seitenwechsel der Westmächte zu erreichen, so dass sich diese mit den Resten der Nazitruppen gegen die Rote Armee wenden sollten. Dabei wären die KZ-Insassen, die befreiten Zwangsarbeiter und die deutschen Nazigegner höchst störend gewesen.
Zugleich ging es darum, Zeugen der Naziverbrechen zu beseitigen. Dass die Leichen der beseitigten Zeugen dann doch auch Zeugnis von den Verbrechen ablegten, wog nicht so schwer. Die Naziverbrecher konnten sich darauf verlassen, daß der kommende Rechtsstaat die Einzelfallprüfung vornehmen würde. Somit genügte es nicht, der Mörderbande angehört zu haben, man musste auch beim Morden von Zeugen gesehen worden sein – und diese Zeugen waren dann zumeist nicht mehr am Leben.

Die Motive der Täter

Ein weiteres Motiv war die Bereitschaft vieler Deutscher, der kleinen Leute, der Hitlerjugend und des Volkssturms unter Führung örtlicher NSDAP-Größen, als Mordgehilfen der SS tätig zu werden. Es waren unsere lieben Nachbarn, von denen viele von der Frage getrieben handelten: Wenn die ehemaligen Gefangenen nun uns das antun was wir ihnen und ihren Landsleuten antaten – dann sei Gott uns gnädig. So kam es zu regelrechten Massakern, zu „Hasenjagden“ – wie sie genannt wurden – seitens Teile der Zivilbevölkerung. Einfache Leute halfen dabei, Scheunen mit eingepferchten Todesmarschierern abzubrennen, aus Waggons Entkommene wieder einzufangen. Wer sich flehentlich an Dörfler wandte, wurde oftmals von der Schwelle gewiesen. Wer den Elenden half, konnte Gefahr laufen, bei der SS und Gestapo denunziert zu werden.2

Es gab auch solidarische Helfer

Doch es gab auch die anderen Deutschen, aber sie waren in der Minderheit. Es gab diejenigen, die im Frühjahr 1945 die erschöpften Todesmarschierer auf den Stufen ihres Hauses Sitzenden ins Haus zogen, zu essen und zu trinken gaben und sie versteckten. In der Erinnerungsarbeit an die Solidarität der einfachen Leute mit den Opfern der Todesmärsche lag die DDR vorn, das geht aus vielen Berichten hervor. Betont wird darin die Rolle der helfenden Antifaschisten. Freie Deutsche Jugend und Junge Pioniere, ganze Schulen, gingen in der DDR den Weg der Todesmärsche nach, legten Blumen nieder, wo der Staat Gedenksteine errichtet hatte. Sie schrieben Gedenkbücher und sprachen mit jenen, die nun alt waren, in ihrer Jugend aber Solidarität organisierten. Egon Krenz, der ehemalige Pionier- und FDJ-Vorsitzende, resümierte in einer Mail an unseren Autor: „Die Todesmärsche spielten in der Pflege der antifaschistischen Traditionen der DDR eine sehr große Rolle. Die FDJ und ihre Pionierorganisation haben da viele und vielfältige  Ideen verwirklicht.“

Blicken wir zurück.

Wie es 1933 begann…,

„Zielklare Initiatoren dieses Faschisierungsprozesses waren besonders aggressive Gruppen des Industrie- und Bankkapitals, des Großgrundbesitzes und der Generalität. Ihrem unveränderten Drang nach der globalen Vormachtstellung entsprach schließlich uneingeschränkt nur noch das Programm der Nazis.“ 3 Es ging um die Macht.

… so endete es auch 1944/45:

„Die deutsche Großbourgeoisie hatte sich schon umgestellt. Eine Fortsetzung des verlorenen Krieges um jeden Preis nach den Wahnideen der führenden Nazis widersprach ihren elementaren Interessen; ihr ging es nun um eine zweckmäßige Beendigung: den imperialistischen Übergang zum Frieden, der ihre Machtgrundlagen unangetastet ließ.“²4 Es ging wieder um die Macht.

Die Kriegsendphasenverbrechen gehörten zur Wahrung dieser Machtgrundlagen dazu. Und Täter waren nicht allein die Gestapo, SS, Hitlerjugend, Volkssturm und gewöhnliche kleine Leute. Täter waren auch Konzernherren – und zwar nicht nur als Förderer und Nutznießer des Systems, sondern auch als Sklavenhalter, die 1945 – als sie nicht mehr gebraucht wurden – ihre Zwangsarbeiter in den Tod schickten von Krupp in Essen nach Bergen Belsen und von Quandt in Hannover nach Gardelegen in die brennende Scheune.

Das Treffen in Straßburg

Schon am 10. August 1944, gleichzeitig mit den Massenverhaftungen im Rahmen der Aktion „Gitter“ und den Massenhinrichtungen im Gefolge des 20. Juli 1944, fand laut US-Geheimdienstberichten im Straßburger Hotel Maison ein Geheimtreffen von Vertretern der SS und großer Konzerne statt. Repräsentanten des „Freundeskreises SS“ aus Firmen wie Krupp, IG Farben, Messerschmidt, Siemens, Daimler Benz, AEG, Flick AG, Dr. Oetker, Wintershall/Quandt und Bosch schufen einen Fonds, der das Überleben der deutschen multinationalen Unternehmen wie auch vieler SS-Führer, ja sogar ganzer NS-Strukturen sichern sollte. Gestapo-Müller beispielsweise wurde aufgrund dieser Verabredung im Ausland versteckt – und nie gefasst. Und nicht nur die genannten Unternehmen, auch das von ihnen repräsentierte Wirtschaftssystem überlebte.

Gestapo-Chef Heinrich Müller hatte der Frau von Graf Moltke erklärt5: „Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918 begangen wurde. Wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben lassen.“ Die Alliierten dürften „keine aufbauwilligen Kräfte“ vorfinden, war das Motto von SS und Gestapo.

Die Historikerin Dr. Gabriele Lotfi hat mit ihrem Buch „KZ der Gestapo – Arbeitserziehungslager im Dritten Reich“6 Informationen über einen bis dahin wenig erforschten Zweig des NS-Terrorsystems vorgelegt und zudem noch die Mittäterschaft, ja sogar die Initiative der deutschen Industrie beim Vorgehen gegen deutsche und ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter nachgewiesen, In 200 Arbeitserziehungslagern und anderen Folterstätten, die in Komplizenschaft mit örtlichen SS- und Gestapostellen geschaffen wurden, hat „die deutsche Wirtschaft“ während der Kriegszeit ständig rund 40.000 Arbeiter unter grausamsten Bedingungen für viele Wochen eingepfercht. Der Industrie, so wird in der Untersuchung Lotfis festgestellt, lag an einer „raschen und effektiven Bestrafung“ von, wie es im Nazi-Jargon hieß, „Arbeitsvertragsbrüchigen“. Sie war daher bereit, in Zusammenarbeit mit der örtlichen und der regionalen Gestapo die Arbeitserziehungslager zu finanzieren und sogar Wachpersonal dafür bereitzustellen.

Tausende Opfer wurden ermordet, besonders viele Tote wurden in den letzten Kriegsmonaten gezählt, da die Gestapo einen Arbeiteraufstand und „einen Dolchstoß“ befürchtete.

Zusammenarbeit der Konzerne und der SS

Gegen die deutschen und ausländischen Aktiven der Arbeiterbewegung handelten Wirtschaft und Nazis gemeinsam. Dissens gab es in der Frage, ob die Produktionsanlagen dem Feind in die Hände fallen sollten. Industrielle, die Mitglieder des Freundeskreises der SS waren, erreichten es, daß Hitler seinen „Nero“-Befehl zur Zerstörung aller Industriebetriebe, Vorräte und Verkehrswege zurücknahm, den er am 19. März 1945 erlassen hatte. Industrielle wirkten über den Rüstungsminister Albert Speer auf Hitler ein – der einen neuen Führerbefehl erließ. Joachim Fest, der Hitler- und Speer-Biograph, schilderte die entscheidende Begegnung Speers mit Hitler so: „April 1945 in der Reichskanzlei. Speer, Architekt und Rüstungsminister, war längst geflohen. Er kehrt noch einmal in die Hauptstadt zurück, obwohl die Alliierten Berlin fast eingenommen hatten und der Minister gegen zahlreiche Anordnungen Hitlers verstoßen hatte. Mit belegter Stimme habe Speer dem Führer seine Befehlsverweigerungen gestanden. Hitler behielt nur mühsam die Fassung.» (WAZ, 29. 1. 2000) Aber Hitler hörte auf Speer und seine industriellen Hintermänner! Während die Massenexekutionen an den Arbeiterfunktionären noch anhielten, erreichten Generalfeldmarschall Walter Model am 5. April 1945 Anweisungen über die „Aufrechterhaltung der Industrie“ an der Ruhr. Das war das Ende des Nero-Befehls – und es war wie einst im Frühjahr 1933: Die Nazis vernichten die Funktionäre der Arbeiterbewegung und erhalten den Segen der Industrie.

Was ab Januar 1945 geschah

Die „Kriegsendphasenverbrechen“ sind besonders in Dortmund (Bittermark/Rombergpark), in Solingen (Wenzelnbergschlucht) und in Penzberg/Bayern gründlich erforscht worden. Der Ablauf: Anfang Januar 1945 wurden Häftlinge aus Vernichtungslagern auf Todesmärsche, so aus Auschwitz in Richtung Westen geschickt. Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit und fand noch 3000 Häftlinge vor.

Überall im Reich erhielt auch die Gestapo den Befehl des Reichssicherheitshauptamtes, der zum Massenmord an politischen Gegnern der Nazis und an Zwangsarbeitern führte. Angefangenen hatte die Aktion am 24. Januar 1945 um 22.05 Uhr. Da spuckte der Ticker der Geheimen Staatspolizei beispielsweise in der Benninghofer Straße in Dortmund-Hörde die folgenschwere Nachricht aus, weitergeleitet von SS-Standartenführer Dr. Walther Albath aus Düsseldorf, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, der funkte: „Die gegenwärtige Gesamtlage wird Elemente unter den ausländischen Arbeitern und auch ehemalige deutsche Kommunisten veranlassen, sich umstürzlerisch zu betätigen.» Und weiter: „Es ist in allen sich zeigenden Fällen sofort zuzuschlagen. Die Betreffenden sind zu vernichten, ohne im formellen Weg vorher beim RSHA Sonderbehandlung zu beantragen.“

Das war der Freibrief zum Mord, der den örtlichen Gestapo-Leuten ausgestellt wurde. Die knappen Zeilen enthielten alles, was die Gestapo für die nun folgenden Gewalttaten brauchte: Die Warnung vor einem kommunistischen Umsturz und die Vollmacht, ohne einen Antrag in Berlin oder bei einem Gericht Menschen umbringen zu können. Die Namen der Opfer, soweit es nicht „auffällige“ Ausländer waren, hatte die Gestapo in ihren Karteien und Akten gesammelt: Widerstandskämpfer, die in der Zeit seit 1933 bereits einmal inhaftiert waren und von denen ein antifaschistisches und antikapitalistisches Nachkriegsengagement zu erwarten war, und in Berichten von Spitzeln benannte Personen. Am 9. Februar 1945 begannen die Massenverhaftungen. Im März und April 1945 wurden in der Dortmunder Bittermark und im Rombergpark bis kurz vor dem Einmarsch der US-Amerikaner am 12. April dann mindestens 289 Antifaschisten von der Gestapo ermordet.

Nicht nur aus dem Gestapo-Gefängnis wurden die Unglücklichen abgeholt. Die Stahlindustriellen im Ruhrgebiet hatten z. B. eigene „Auffanglager“ geschaffen, um sich entlaufene und wieder eingefangene Arbeitssklaven vornehmlich für die Trümmerbeseitigung zu sichern. Erst nach dem Jahr 2010 entdeckten Dortmunder VVN-Mitglieder das „Auffanglager“ des Kriegsverbrechers Albert Vögler am Emschertor des ehemaligen Dortmund-Hörder-Hüttenvereins. Es bot sich ein grausiges Bild eines fenster- und fast luftlosen Kellers von 180 Quadratmetern Größe für 70 Personen, vornehmlich Russen. Werkseigene Aufseher hatten die Gefangenen gequält, und vierzehn Tage vor Eintreffen der Amerikaner der Gestapo hatten sie die letzte Belegung von mindestens 70 Gefangenen zur Exekution der Gestapo übergeben.

„Niemand soll am Leben bleiben“

Der Dortmunder Polizeihistoriker und Ex-Polizist Alexander Primavesi sagte dazu: „Es war der wahnwitzige Vorsatz, niemanden aus den Reihen der politischen Gegner am Leben zu lassen, damit sie nach dem Zusammenbruch nicht führende Positionen besetzen konnten, der die Gestapo zu dieser letzten Abrechnung bewegte. Bereits Tage vor den Erschießungen verteilten die Gestapo-Beamten die Wertsachen der Opfer unter sich, danach betranken sie sich bis zum Umfallen.“ 7

Von dem etwa 150-köpfigen Exekutionskommando der Gestapo, das nach Ostern 1945 von Dortmund-Hörde über Hemer und Iserlohn in alle Welt flüchtete, kamen 1951 und 1952 27 Mörder in Dortmund vor Gericht. 15 Angeklagte wurden freigesprochen. Niemand wurde wegen Mordes verurteilt, sondern allenfalls wegen Beihilfe zur Tötung.

Die Mörder waren „unter uns“

Über Gauleiter Albert Hoffmann wurde nach dem Krieg bekannt, er habe den Nero-Befehl Hitlers zur „Verbrannten Erde“ auch in Deutschland bedingungslos ausführen wollen. Das Industriegebiet, so die Weisung aus dem Führerbunker in Berlin, sei dem Feind nur zerstört zu hinterlassen. Gauleiter Hoffmann entschied sich, das Problem „Zwangsarbeiter» zusammen mit dem Befehl »Verbrannte Erde“ zu lösen. Am 26. März 1945 befahl er, 23.000 ausländische Zwangsarbeiter und 7.000 Kriegsgefangene im Bereich der Polizeibehörde Dortmund in verschiedene Zechen zu bringen und die Stollen zu fluten. Mehrere Polizeibeamte und der Direktor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, Haake, hielten sich später zugute, den Befehl des Gauleiters nicht ausgeführt zu haben. Diese „Befehlsverweigerung“ kann aber auch ihre Ursache darin gehabt haben, daß die Industrie ohnehin Hitlers Nero-Befehl, der die Zerstörung ihrer Produktionsstätten vorsah, ablehnte und – wie oben geschildert – über Rüstungsminister Speer eine Rücknahme des Befehls durchsetzte.

Als dann der Rombergparkprozess vorbereitet wurde, kam es zu grotesken Situationen: Einige Polizeibeamte, die die Vernehmungen durchführten, hatten genauso viele Straftaten begangen, wie die von ihnen vernommenen Angeklagten. Entsprechend dünn waren die Ergebnisse der Verhöre.

Bei der Polizei leitend tätig – auch ab 1945

Sonja Zekri fällt in den bürgerlichen „Ruhrnachrichten“ vom 1. April 1994 ein vernichtendes Urteil über die „Entnazifizierung“: „Die Zeit arbeitete für die Gestapo. Mit der neuen Kluft zwischen West und Ost verloren die englischen Alliierten spürbar das Interesse an einer Aburteilung. Schließlich sollten die Beamten den neuen deutschen Staat, der als Puffer gegen den Kommunismus funktionierte, stabilisieren. Ein erheblicher Teil der Gestapo-Beamten wurde später wieder bei der Dortmunder Polizei eingestellt.“ So wurde beispielsweise ein Dr. Braschwitz 1957 zum stellvertretenden Leiter der Dortmunder Kriminalpolizei berufen. Braschwitz war in der Zentrale des SS-Führers Himmler, dem Reichssicherheitshauptamt, als Sachbearbeiter für die Bekämpfung des Kommunismus tätig.8

Friedrich Karst, der erste Leiter des nordrhein-westfälischen Landeskriminalpolizeiamtes von 1946 bis1948,war Mittäter bei Kriegsendverbrechen. Während die Rolle Karsts innerhalb der Wuppertaler Polizei bei der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma unklar bleibt – belegt ist, dass er Deportationslisten zusammenstellte -, ist seine aktive Beteiligung an einem anderen NS-Verbrechen der letzten Kriegswochen nachgewiesen: der Ermordung von 71 Menschen, darunter mindestens vier Zwangsarbeiter in einer Schlucht am Wenzelnberg, 25 km südwestlich von Wuppertal9 am 13. April 1945. Die Ermordeten waren Gefangene aus verschiedenen Zuchthäusern und Gefängnissen. In Folge eines Befehls von Generalfeldmarschall Walter Model wurden damals wegen politischer Delikte Inhaftierte der Sicherheitspolizei übergeben. Die entsprechenden Gefangenen aus dem Wuppertaler Bereich wurden an einer schon ausgehobenen Grube erschossen.

Auch Otto Cassebaum, Chef des Gestapogefängnisses Steinwache in Dortmund, hat eine Nachkriegskarriere durchlaufen: Er wurde Chef der Polizei in Herford.10

Was der Widerstand wollte
Auch mit unserer neuen Buchpräsentation müssen wir feststellen, dass mit der Herausgabe von „Mörderisches Finale“ die Arbeit an diesem Thema nicht abgeschlossen ist. Immer wieder ergeben sich neue Informationen. So wurden uns Massaker am Kriegsende aus vielen Gegenden gemeldet. Die genaue Zahl der „Tatorte“ wird nicht zu ermitteln sein.
Eines Tages erhielten wir Neuigkeiten aus Frankreich. Frederic Scamps aus Hyeres/Frankreich, hat uns geschrieben und uns um Auskünfte über seinen Großvater Léon Chadiraac gebeten, der im Frühjahr 1945 in Lippstadt Zwangsarbeit verrichten musste und dann in der Bittermark/Rombergpark ermordet wurde. Die Anklageschrift des „Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof“ wurde jetzt von uns im Bundesarchiv entdeckt (Aktenzeichen 9 J 29/45 Bez. 6). Entdeckt wurde eine internationale Widerstandgruppe.
Über den 1911 geborenen Kesselschmied Leon Chadirac aus St. Amand-les-Eaux und seine Mitstreiter heißt es: In Lippstadt hätten die Angeklagten aus der Firma Westfälische Union AG sich auf der Grundlage „feindlicher Hetzsendungen“ politisch abgestimmt, der „Grundton der Gespräche war kommunistisch“. Die Gruppe wurde „der Feindbegünstigung und der Vorbereitung zum Hochverrat, der Wehrkraftzersetzung und des Rundfunkverbrechens“ angeklagt; zu einem Verfahren kam es nicht mehr. Im Falle von Leon Chadirac wurde die Anklage von der Berliner Reichsanwaltschaft und von der Gestapo Dortmund so begründet: „Der Angeschuldigte Chadirac beschäftigte sich im Gespräch mit den Verhältnissen der deutschen und französischen Arbeiter und wünschte für sie den Kommunismus herbei. Er trat für ein Pan-Europa mit Einschluss Sowjetrusslands ein.“ Die Anklageschrift lässt den Schluss zu, dass die deutsch-französische Widerstandsgruppe eine politische Plattform hatte und sie auch mit Flugzetteln – die Anklageschrift spricht von „Hetzgedichten“ – an die Kollegen herantraten.

Suche nach den Tätern in Nadelstreifen

Neben der Herausgabe von „Mörderisches Finale“ wurde in NRW ein weiteres Projekt eingeleitet: „Verbrechen der Wirtschaft 1933 – 1945“. Es geht um das Zusammentragen von Berichten aus den Städten, in denen die Täter in Gestalt der Wehrwirtschaftsführer wirkten. Das Zusammentragen geschieht in Form einer Rallye durch NRW. Das Projekt ist nicht abgeschlossen. Das Anliegen besteht darin, ganz konkret aufzuzeigen, wie die Herren des großen Geldes den Faschismus förderten und am Faschismus und am Krieg verdienten, ohne nach 1945 dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Vielfach machten sie weiter – so im Rüstungsgeschäft.

Wie wir oben sahen, hatten die ökonomischen Eliten, die Militaristen, die Politiker der Bourgeoisie – man beachte nur die Pläne sogar mancher Teilnehmer am 20. Juli 1944 – genaue Vorstellungen wie es nach dem verlorenen Krieg weitergehen sollte.

Die Pläne der Linken bleiben aktuell

Auch die Linke hatte ihre Pläne, die sich allerdings nicht verwirklichen ließen. So sei der Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 zu nennen.11 Gefordert wird „der Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk.“

Kurt Schumacher, der SPD-Vorsitzende in Westdeutschland, hatte gewiss keinerlei Absichten des Zusammengehens mit den Kommunisten. Aber ihm war klar, dass der Arbeiterwiderstand in der Führung eines demokratischen Deutschlands vertreten sein müsste: „Der Sinn der sozialdemokratischen Opfer in der Illegalität ist nur darin zu sehen, dass der Welt somit gezeigt werden sollte, dass nicht alle Deutschen Nazis seien und dass neben dem Nazi-Deutschland auch noch ein anderes Deutschland bestände. Tatsächlich ist dann auch kein Opfer, das die Nazifeinde gebracht haben, ohne Sinn und Zweck geblieben, denn jetzt gibt es wenigstens Menschen in Deutschland, denen die Welt die moralisch-politische Berechtigung nicht abstreiten kann, die Stimme bei der Neugestaltung Deutschlands zu erheben.“12

Wir wissen, dass sich nicht Schumacher durchsetzte, sondern die Herren, die im November 1944 in Straßburg versammelt waren. Die große Mehrheit der Abgeordneten im ersten deutschen Bundestag gehörten vorher Naziorganisationen an, und es waren solche darunter, die dem Ermächtigungsgesetz für die NSDAP zugestimmt hatten. Dennoch mussten sie dem Grundgesetz zustimmen.

Erst 20 Jahre später wurde ein Bundeskanzler gewählt, der aus dem Widerstand kam: Willy Brandt. Seine Wahl sollte mit aller Macht verhindert werden. Im Wahlkampf hat Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU, vorher NSDAP), der bisherige Kanzler, sogar die NPD ins Spiel gebracht, als er über die Bundestagswahlen 1969 äußerte, daß für ihn „eine kleine Koalition, jedoch mit der NPD möglich“ sei.13

Max Reimann, Vorsitzender der KPD, Widerstandskämpfer und Mitbegründer der VVN, hat am Grundgesetz mitgewirkt und 1949 zur Verabschiedung des Grundgesetzes erklärt: „Sie meine Damen und Herren, haben diesem Grundgesetz, mit dem die Spaltung Deutschlands festgelegt ist, zugestimmt. Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!“14
Es bleibt die Aufgabe, ein Deutschland zu schaffen, das nicht nach den Vorstellungen der Herren ist, die sich im Hotel Maison 1944 in Strafburg trafen. Es bleibt die Aufgabe, eine Republik zu schaffen, die dem Grundgesetz von 1949 entspricht: Eine Republik ohne Militarismus, ohne Angriffskriege, eine Republik mit Sozialisierung und Sozialpflichtigkeit des Eigentums, ohne Nazis. Was die deutsch-französischen Widerständler von Lippstadt wollten, gehört dazu: Ein Europa des Friedens mit Einschluss Sowjetrusslands.