Gemeinsame Gedenkstättenfahrten von Gewerkschaftsjugend und VVN-BdA
23. September 2022
Essen, Gedenkstätte, Gewerkschaftsjugend
Wie junge Menschen für die immer weiter zurückliegende Geschichte von Widerstand und Verfolgung im Faschismus interessiert werden und dabei zugleich einen Bezug zur Gegenwart herstellen können, zeigt beispielhaft eine langjährige und vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Ruhrgebietsstadt Essen. Hier gibt es seit Jahren eine erfolgreiche Kooperation zwischen dem DGB Essen und der VVN-BdA Essen. Der DGB und seine Jugendorganisation profitiert dabei vom Wissen und von den Kontakten der VVN-BdA und die VVN-BdA von der Mobilisierung durch die Gewerkschaft. Nach mehreren gemeinsamen Fahrten in den 1990er Jahren mit dem DGB Essen wurden diese nach einer Unterbrechung seit 2014 bis in die Gegenwart durch die jeweiligen Jugendsekretäre der Gewerkschaftsjugend Essen/Mülheim/Oberhausen wieder aufgenommen. Wer sich die Geschichte dieser gemeinsamen Fahrten anschaut, erkennt auch wie sich die Erinnerungsarbeit seit den 1990ern gewandelt hat. Jan Mrosek, DGB-Jugendbildungsreferent im Jahre 2016: „Gerade in der heutigen Zeit, wo Fremdenfeindlichkeit und Rassismus wieder stärker werden, ist es umso wichtiger die Geschichte von früher zu erzählen und für junge Menschen greifbar zu machen. Wir müssen als Jugend sprachfähig sein, um heute gegen Hass und Ausgrenzung anzukämpfen.“
Ihren Ursprung haben die Fahrten in den 1990er Jahren, als der Essener DGB und die Essener VVN erstmals gemeinsam zu den Orten des Nazi-Terrors fuhren. Ziele waren bereits damals die ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück und Dachau, lagen aber auch in den Nachbarländer wie das ehemalige Ghetto Theresienstadt in Tschechien oder das ehemaligen KZ Natzweiler-Struthof in Frankreich. 1997 ging es nach Krakau und zum ehemaligen Lagerkomplex Auschwitz in Polen. Im Unterschied zur Gegenwart waren damals noch Essener Zeitzeugen wie Theo Gaudig und Willi Rattai mit dabei, die die Nazi-Zeit aus dem eigenen Erleben kannten. Bereits damals waren die Fahrten mehr als nur reine Gedenkstättenfahrten. So besuchten die Teilnehmenden der Fahrt nach Theresienstadt auch die Skodawerke und den Jüdischen Friedhof in Prag, waren Gegenwart und Geschichte gemeinsames Thema.
Der Neuanfang begann 2014 mit der Gewerkschaftsjugend Essen. Es fand eine Tagestour in die erst 2011 neu errichtete Gedenkstätte Esterwegen statt, wo an die Emslandlager erinnert wird, in die 1933/34 viele Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten aus dem Ruhrgebiet von der SA eingesperrt wurden. An diese Tagestour schlossen sich mehrtägige Wochenendfahrten von Freitag bis Sonntag an, und zwar zunächst 2016 eine Fahrt nach Weimar und Buchenwald sowie 2017 eine weitere Fahrt nach Hamburg und Neuengamme. 2016 wurde zugleich durch eine Baumpflanzung im Rahmen des Projektes „1000 Buchen“ an den Essener Buchenwaldhäftling Theo Gaudig, den viele Essener in Schulen und Veranstaltungen kennengelernt hatten, wo er unermüdlich als Zeitzeuge und Mahner über seinen Widerstand, seine Haft, über den Faschismus gesprochen hatte, erinnert. Zur Fahrt 2017 gehörte neben dem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auch eine alternative Hafenrundfahrt in Hamburg zu den Einsatzorten der KZ-Zwangsarbeiter. Vor allem der Besuch in Neuengamme in Hamburg machte die Ausbeutung der KZ-Häftlinge durch die Wirtschaft deutlich, ist doch das KZ Neuengamme gezielt errichtet worden, um billige Arbeitskräfte für die geplanten NS-Großbauten zur Verfügung zu haben. Das Konzentrationslager und die Hansestadt waren eng miteinander verbunden. So gewährte beispielsweise die Stadt Hamburg dem SS-Unternehmen „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH“ ein Darlehen in Höhe von einer Million Reichsmark für den Bau eines großen und modernen Klinkerwerks.
Die neuen Fahrten, die für Jugendliche und junge Erwachsene aus Mülheim, Essen und Oberhausen bis 27 Jahre kostenfrei sind, fanden regen Zuspruch bei den jungen Leuten wie auch bei den älteren Mitgliedern der VVN-BdA. Jugendliche und junge Erwachsene besuchten teilweise zum ersten Mal in ihrem Leben eine Gedenkstätte. Führungen durch die Gedenkorte und Museen sowie Zeitzeugengespräche sind jeweils integraler Bestandteil der Fahrten, die von den Kooperationspartnern gut vorbereitet werden.
So fanden 2018 zwei Fahrten statt, die erste Fahrt führte nach München und Dachau, die zweite Fahrt im Jahr nach Berlin und Sachsenhausen. Wie auch zuvor engagierten sich örtliche Mitglieder der VVN-BdA, kontaktiert von den Essener Kameradinnen und Kameraden für die Fahrt. In München führte Ernst Antoni, Mitglied der Münchener VVN-BdA und Redakteur der „antifa“, der Zeitung der VVN-BdA, kenntnisreich durch die Stadt, die von den Nazis den Beinamen „Stadt der Bewegung“ erhalten hatte. In der KZ-Gedenkstätte Dachau bewegte der Zeitzeuge Ernst Grube die jungen Menschen mit seiner persönlichen Geschichte. In Sachsenhausen, dem ehemaligen Konzentrationslager nördlich von Berlin führten die beiden VVN-BdA-Mitglieder Dorit und Gerd Hoffmann aus Frankfurt/Oder, zeigten die baulichen Überreste und schilderten den Alltag der Häftlinge und die Brutalität der SS-Männer. Vielen wird die „Schuhprüfstrecke“ in Erinnerung geblieben sein, auf der Häftlinge bis zur völligen Erschöpfung Schuhmaterial für die Wehrmacht und später auch für die private Firma Salamander erproben mussten.
In Berlin führte Hans Coppi jr. die Teilnehmenden durch die Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Ursprünglich als „Gedenkstätte 20. Juli“ gegründet, zeigt sie heute die ganze Breite des Widerstandes gegen den Faschismus. Hans Coppi jr. wurde im Polizeigefängnis geboren und wuchs bei seinen Großeltern auf, da seine Eltern, Hilde und Hans Coppi, als Widerstandskämpfer der von den Nazis als „Rote Kapelle“ bezeichneten Widerstandsgruppe ermordet worden waren. Im Anschluss an dem Besuch der Gedenkstätte nahmen alle an der Demonstration „#unteilbar“ für eine offene und freie Gesellschaft teil und stellten einmal mehr eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her.
Auch im Jahr 2019 fanden wieder zwei Gedenkstättenfahrten statt. Zum Jahrestag der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald ging es wieder nach Weimar und Buchenwald und später im Jahr in unser Nachbarland, nach Amsterdam in den Niederlanden. Und auch in der Lokalpresse, genauer in der Thüringischen Landeszeitung vom 15.04.2019 fand die Gewerkschaftsjugend aus Essen Anerkennung für ihre Fahrt nach Weimar und Buchenwald.
Anlass für die Reise nach Buchenwald war die Baumpflanzung zum Gedenken an 520 jüdische Frauen, die in einem Außenlager des KZ Buchenwald in der Essener Humboldstraße für Krupp Zwangsarbeit leisten mussten. Durch die Gedenkstätte führten mit Gerd Hoffmann und Reinhold Loch zwei Mitglieder der VVN-BdA aus Frankfurt/Oder bzw. Essen. Den Abschluss fand das Wochenende mit der Teilnahme an der Befreiungsfeier im 74. Jahr nach der Selbstbefreiung am 11. April 1945. In Buchenwald war es den politischen Häftlingen aus den verschiedenen europäischen Ländern gelungen, eine internationale Widerstandsorganisation zu bilden. In den letzten Apriltagen widersetzten sie sich zunehmend den Anweisungen der SS, organisierten Waffen und planten den Widerstand. Sie wussten, dass die SS sie bei einer sogenannten „Evakuierung“ des Lagers ermorden würde. Angesichts der herannahenden US-Armee gelang ihnen die Übernahme des Lagers und somit die Rettung zahlreicher Leben. Im Lager befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch rund 21.000 Häftlinge, darunter 904 Kinder und Jugendliche. Als die US-Armee eintraf, fand sie das befreite Lager und bewaffnete Häftlinge vor.
In Amsterdam standen neben dem Besuch des Anne-Frank-Hauses, die Hollandsche Schouwburg und das Verzetsmuseum Amsterdam, zu Deutsch Widerstandsmuseum Amsterdam, auf dem Programm. Arthur Graaf, Vorsitzender des niederländischen Pendants zur VVN-BdA, führte die Teilnehmenden an zwei Tagen durch das gegenwärtige Amsterdam. Die Familie Frank war bereits 1933/34 vor den Nazis aus Deutschland geflohen und versteckten sich ab dem 6. Juli 1942 im durch Annes Tagebuch weltberühmt gewordenen Hinterhaus in der Prinsengracht 263. Sie wurden verraten und am 4. August 1944 verhaftet und deportiert. Anne und ihre Schwester Margot starben elendig Ende Februar/Anfang März im Konzentrationslager Bergen-Belsen; von den acht Untergetauchten überlebte nur Annes Vater, Otto Frank. Er entdeckte nach der Rückkehr nach Amsterdam Annes Tagebuch, in denen Anne die Ereignisse im Hinterhaus festgehalten hatte und ließ es veröffentlichen. Die Hollandsche Schouwburg war ursprünglich ein Theater und wurde zu einem Sammelplatz für die zur Deportation bestimmte jüdische Bevölkerung. Diese mussten wenige Tage bis Wochen hier unter unmöglichen Bedingungen ausharren. Heute handelt es sich um eine Gedenkstätte für die über 100.000 ermordeten Juden der Niederlande, in denen an die Namen der ermordeten Familien erinnert wird. Das von Widerstandskämpfern eingerichtete Widerstandsmuseum zeigt in seiner Ausstellung die Gesellschaft der Niederlande ab den 1930er Jahren, in der Anpassung, Kollaboration und Widerstand stattfand und wie sich die Niederlande in der Zeit entwickelte.
Für 2020 hatten die Kooperationspartner eine Antifaschistische Stadtrundfahrt geplant, mussten diese jedoch aufgrund der Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie absagen. Wie viele andere Organisationen auch nutzte die DGB-Jugend stattdessen das Internet und interviewte zum 8. Mai 2020 im Rahmen ihrer Online-Gedenkveranstaltung Margret Rest von der Essener VVN-BdA (hier). Die auch medial aktive DGB-Jugend hat darüber hinaus mehrere kurze und sehr emotional gestaltete Videos erstellt und auf Youtube hochgeladen. Hier finden sich Eindrücke und Aufnahmen aus Amsterdam (hier), Buchenwald (hier) und Dachau (hier).
Erst 2021 konnten DGB-Jugend und VVN-BdA wieder gemeinsame Fahrten durchführen. Neben einer erneuten Fahrt nach Hamburg und Neuengamme folgte eine Fahrt nach Hannover und in die Gedenkstätte Bergen-Belsen. Während der ersten Fahrt nach Hamburg und Neuengamme 2017 hatten die Teilnehmenden auf dem Rückweg kurz die Gedenkstätte Bullenhuser Damm besucht, in der 1945 SS-Männer 20 jüdische Kinder und weitere Erwachsene ermordet hatten, um die Spuren der an ihnen verübten medizinischen Experimente zu verwischen und unliebsame Zeugen zu beseitigen. Bei der Fahrt 2021 wurde auch die zur Gedenkstätte gehörende Ausstellung besucht. Die Fahrt nach Hannover und Bergen-Belsen im gleichen Jahr führte auch zum Friedhof sowjetischer Kriegsgefangener, zur Gedenkstätte Ahlem in Hannover und einem beeindruckenden Bericht der Zeitzeugin Ruth Gröne.
Wie auch in den Jahren zuvor folgten 2022 wiederum zwei Gedenkstättenfahrten. Die erste Fahrt ging nach Erfurt zur Firma Topf & Söhne, die die Krematorien in mehreren Konzentrationslagern und im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebaut hatte und nach Mittelbau-Dora, wo in unterirdischen Stollen die V2-Raketen produziert wurden und die KZ-Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten. In den ersten Monaten starben bereits Tausende von ihnen an Entkräftung, Unterernährung, wegen der katastrophalen sanitären Bedingungen sowie an Lungenkrankheiten, hervorgerufen durch den Staub der Sprengungen.
Eine weitere Fahrt im Jahr 2022 führte nach Bremen und in die Gedenkstätte Esterwegen. In Bremen führten Monika Eichmann und Ulrich Stuwe, zwei Mitglieder der VVN-BdA, durch den U-Boot-Bunker Valentin, einem Rüstungsprojekt der Nazi-Marine mit meterdicken Betonwänden und -decken. Die „technische Meisterleistung“ wurde mit Arbeitssklaven geschaffen, die unter unmenschlichen Bedingungen tägliche Schwerstarbeit auf der Baustelle leisten mussten. Zivile Zwangsarbeiter aus ganz Europa, sowjetische Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, Häftlinge eines Arbeitserziehungslagers der Bremer Gestapo, italienische Militärinternierte wurden von Marine-Soldaten bewacht dort eingesetzt. Viele von ihnen überlebten die Folgen der körperlichen Arbeit, der unzureichenden Versorgung und der Lebensbedingungen in den umliegenden Lagern nicht. Eine Führung durch die Bremer Neustadt führte zu weiteren „Denkorten“ an die Vergangenheit. Schließlich folgte noch der Besuch der Gedenkstätte Esterwegen, die an die Moorlandlager erinnern und 2014 Ziel der ersten Fahrt gewesen war. Wie auch beim U-Boot-Bunker Valentin bot erst der Abzug der Bundeswehr die Möglichkeit, am historischen Ort eine Gedenkstätte einzurichten.
An den Gedenksteinen, die an Carl von Ossietzky und an alle Häftlinge des Lagers erinnern, legte die DGB-Jugend einen Kranz nieder und Lennart hielt eine angemessene Gedenkrede. Carl von Ossietzky, der als Journalist die Weimarer Republik verteidigte und vor dem aufkommenden Faschismus warnte, wurde von den Nazis in Esterwegen mit der üblichen Grausamkeit behandelt und durch die Lagerbedingungen ermordet. Der Friedensnobelpreisträger ist damit das prominente Beispiel für das Leiden vieler weniger bekannter Menschen. Bereits die Gewerkschaftsjugend der IG Bergbau Essen hatte ihm 1963 an einem anderen Ort in Esterwegen mit einem Gedenkstein gedacht. In der Gegenwart wird in den Ausstellungen der verschiedenen Gedenkorten an zahlreiche Menschen namentlich erinnert, die aus völlig unterschiedlichen Gründen von den Nazis verfolgt und ermordet wurden. Erinnert wird aber auch an die Täter, an die Profiteure und – wenn auch nicht immer – an die beteiligten Firmen, die von der Unterdrückung und Ausbeutung Verfolgter profitierten.
2019 hatte in Weimar Denise Bäcker für die DGB-Jugend gesprochen und unter anderem gesagt: „Uns ist es ein großes Anliegen, immer wieder der vielen Opfer der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft zu gedenken und die Erinnerung wach zu halten. Gerade in Zeiten, in denen alte und neue Nazis sich wieder verstärkt zu Wort melden, ist es wichtig, das kritische Bewusstsein gegen heutige Alt- und Neunnazis zu Stärken. Nichts ist schlimmer als das Vergessen. Wir wollen immer wieder aufzeigen, dass es nie wieder Faschismus geben darf und es wichtig ist, sich für Frieden, Freiheit und Demokratie einzusetzen.“
Text und Bilder: Knut Maßmann
(Berichte zu einzelnen Fahrten in meinem Blog hier).