30 Jahre Brandanschlag in Solingen

21. Juni 2023

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Rede von Alice Czyborra

Foto: Manuele Hilleskamp – r-mediabase

Ich spreche für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Für mich persönlich ist es ein sehr bewegender Moment, in Solingen zu sprechen.

Der 29. Mai 1993 hat sich mir eingebrannt wie so vielen Menschen. Es war Samstag. Morgens im Radio hörten wir von dem fürchterlichen Brandanschlag auf das Haus der türkischen Familie Genc. Mit Freunden fuhren wir sofort nach Solingen. Wir trafen in der Unteren Wernerstraße auf hunderte Menschen. Sie standen schweigend vor den Überresten des Hauses, aufgewühlt durch das, was in der Nacht der Familie Genc angetan wurde. Und auch das vergesse ich nicht. Aus der schweigenden Menge heraus hob jemand ein Schild: Ich weiß nicht mehr genau die Worte, so ähnlich stand: Das Asylrecht wird abgeschafft und dann brennen Menschen.

Dem Brandanschlag in Solingen vorausgegangen war Hoyerswerda. „Deutschlands erste ausländerfreie Stadt“ triumphierten die Neonazis, nachdem sie die Geflüchteten mit Brandflaschen und Steinen vertrieben hatten. Ihre Vorgänger nannten es „judenfrei“. Da war Rostock-Lichtenhagen. Verwaltung und Politik ließen Asylsuchenden vor dem Sonnenblumenhaus kampieren. Das Boot ist voll wurde dabei demonstriert. In der Bundesrepublik herrschte ein Klima der Hetze, der Ausländerfeindlichkeit, angeheizt von der Politik und den Medien mit Schlagworten wie „durchrasst“, Asylantenschwemme“, „Schmarotzer“. Damit wurde die Aufhebung des Artikels 16 vorbereitet.

In dieser Zeit hielt mein Vater, Peter Gingold, als Jude und Kommunist von den Nazis verfolgt, eine Rede, aus der ich zitieren möchte:

„Auch ich gehöre zu den über 800.000 Deutschen, die in der Nazizeit durch ihre Flucht ins Ausland den Mördern entgingen. In fremden Ländern haben wir Asyl und solidarische Hilfe gefunden, wie ich mit meiner Familie in Frankreich. Aus unserer Asylerfahrung haben die aus dem Exil Zurückgekehrten, leidenschaftlich darum gekämpft, dass das Grundrecht auf Asyl, der Artikel 16, als unverzichtbares elementarstes Menschenrecht, für immer und ewig verankert wird.

Der Artikel 16 ist eine Dankesschuld an die Völker, die so vielen deutschen Flüchtlingen das Leben retteten. Der Artikel 16 gilt als Zeichen eines humanen Deutschlands, in dem alle Menschen, gleich welcher Herkunft, gleichberechtigt leben, ein Deutschland, das mithilft, die Ursachen in der Welt zu beseitigen, die Menschen zu Flüchtlingen machen.“
Soweit Peter Gingold Ende 1992 /Anfang 1993.

Damals war es nicht vorhersehbar, wie sehr sich 30 Jahre danach die Fluchtursachen noch massiver verschärfen würden. Noch nie seit dem 2. Weltkrieg sind gegenwärtig so viele Menschen auf der Flucht, vor Krieg, vor Verfolgung, vor Hungerkatastrophen, vor den Folgen der Klimakrise, vor dem Elend und der Perspektivlosigkeit. Und wir erleben heute eine ähnliche Debatte wie vor 30 Jahren: Das Ziel: vollkommene Abschottung der Grenzen Europas, gefängnisähnliche Grenzlager außerhalb Europas und erbarmungslose Abschiebungen.

Die Familie Genc gehörte zu den Zuwanderern die schon lange in Deutschland lebten. Die Familie Genc hatte hier ihre neue Heimat gefunden wie auch viele Migranten, deren Kinder und Kindeskinder in unserem Land geboren wurden.
Doch nach wie vor sehen sich die Menschen, die in zweiter, dritter und vierter Generation leben, als nicht gleichberechtigt, als Menschen zweiter Klasse. Sie sehen sich alltäglichen Beleidigungen, Diskriminierungen, Bedrohungen und sogar tätlichen Angriffen konfrontiert.

Nach den schrecklichen Brandanschlägen in Mölln, in Solingen vor 30 Jahren folgten die entsetzlichen Taten der NSU. Jahrelang konnten die Nazis Uwe Mundlos und Uwe Bohnhard mordend durchs Land ziehen, willkürlich Bürger türkischer und griechischer Herkunft töten. Die Fahnder suchten die Täter innerhalb der Familien und dem Umfeld. Bis heute wurde nicht aufgeklärt, wer die NSU vor Ort unterstützte und welche Rolle der Verfassungsschutz spielte. In Hanau trauern Familien um ihre Angehörigen. Neun junge Menschen mit migrantischen Wurzeln wurden vor drei Jahren von einem Nazi meuchlings erschossen. Nicht zu vergessen, dass nur die Tür der Synagoge in Halle jüdische Menschen vor einem Massaker schützte, aber zwei Menschen durch den Attentäter, den Rassisten und Antisemiten ermordet wurden. Über 200 Morde seit 1990 wurden aus rassistischen und rechtsradikalen Motiven verübt.

An der besonders in den letzten Jahren zunehmenden muslimfeindlichen Atmosphäre tragen auch Politiker und Institutionen eine Verantwortung, indem sie innerhalb der Bevölkerung Ängste schüren vor angeblich wachsender Ausländerkriminalität, die unsere Sicherheit bedrohe. Anlasslos hatte beispielsweise NRW-Innenminister Reul bei uns in Essen Razzien gegen Clankriminalität medial inszeniert, eine Diskriminierung aller Geschäftsinhaber türkischer und arabischer Herkunft. Sie werden bei einem solchem Vorgehen unter Generalverdacht gestellt. Gerade in diesen Tagen wurde die Dozentin Bahar Aslan von der Polizeihochschule Gelsenkirchen entlassen, weil sie rassistische Strukturen innerhalb der Polizei anprangerte. Diese Vorkommnisse gießen Öl ins Feuer der AfD, tragen zu ihren Wahlerfolgen bei, ermuntern neonazistische Parteien und Organisationen in ihrem rassistischen, verbrecherischen Handeln.

In unserem Land, von dem die größten Verbrechen der Menschheit in der jüngsten Geschichte ausgingen, in dem Millionen Menschen, nur weil sie Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma waren, industriemäßig vernichtet wurden, ausgemerzt wie Ungeziefer, da müsste es bei dem kleinsten Anzeichen von Rassismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit die Alarmglocken klingen. Es müsste im ganzen Land einen Aufschrei geben. Wie ist es möglich, dass in einem Land mit dieser unsäglichen Geschichte die AfD einen solchen Auftrieb erfährt?

Doch es macht Mut, dass sich an vielen Orten ein breiter Widerstand gegen die zunehmende Rechtsentwicklung formiert.

Es sind die zahlreichen beeindruckenden Initiativen in Solingen, die in vielfältiger Art und Weise alles tun, damit der Brandanschlag auf das Haus der Familie Genc im Gedächtnis verankert bleibt, das macht Mut.

Wir, die wir heute zusammengekommen sind, um an den fürchterlichen Brandanschlag vor 30 Jahren in dieser Stadt zu erinnern, verstehen das Gedenken an die Opfer dieses Verbrechens als Mahnung und als Auftrag, so etwas nie wieder geschehen zu lassen.