Nach dem NSU-Urteil – und der Freilassung des Verbrechers Wohlleben
24. Juli 2018
Der Terrorplan „Einblick“ wirkt weiter
Der Plan, der dem NSU zugrundliegt, ist bereits 25 Jahre alt. Den Sicherheitsbehörden war er bekannt. Doch sie handelten nicht. Nachfolgend der Bericht eines Betroffenen.
Im NSU-Prozess wurde das „Bild einer Terrorbande“ gezeichnet, „die sich von Anfang an dazu verabredet hat eine Mordserie gegen Ausländer und Repräsentanten des Staates zu begehen, um eine Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild des Nationalsozialismus zu schaffen. Die Taten sollten aber erfolgen, ohne sich dazu zu bekennen. Und zwar aus einem besonderen Grund: Man wollte erst später ein Bekennervideo veröffentlichen, um dann in der Öffentlichkeit einen umso stärkeren Eindruck zu machen“, weil man so die „Schutzlosigkeit der angegriffenen Bevölkerungsgruppe zeigen wollte.“ (So die Süddeutsche Zeitung, 12. Juli 18, aus der Urteilsbegründung im NSU-Prozess zitierend.)
Das Gericht hatte offenbar gar nicht im Blick, wie es diese Schutzlosigkeit noch vergrößerte, indem es nur Beate Zschäpe wegschloss, aber die übrigen angeklagten Neonazis schon bald wieder freigelassen hat. Es wurde nichts unternommen, um die gesamte NSU-Bande mit ihren Helfern auszuschalten. Das Netzwerk aus Nazis und V-Leuten besteht weiter – z.B. auch in Dortmund. Darauf wiesen die Angehörigen von Mehmet Kubasik und andere hin.
Ein potentielles deutsches Opfer schrieb dazu: „Auch ich möchte dies betonen, denn auch ich spreche für die von Nazis angegriffenen und bedrohten Menschen.“ Das „Bild einer Terrorbande“ sei seit 25 Jahren und nicht erst seit 15 Jahren bekannt.
Man habe die Mordserie der Naziterroristen vom NSU nicht als solche erkennen können, weil die für Terroristen üblichen Bekennerschreiben fehlten. Solche unsinnigen Ausflüchte machten Verfassungs- und Staatsschutz bekanntlich angesichts der uns alle erschreckenden Ereignisse. Die „Dönermorde“ machten die Runde.
Doch es gibt das Bekennerschreiben – es ist der Plan zum NSU. Wir haben es in unserem Archiv. Es ist die Todesliste „Einblick“ der faschistischen Anti-Antifa. Es war diese bei den Nazis noch heute gültige Schwarze Liste der Anti-Antifa „Einblick“, die eine Vorlage für den NSU gab und schon 1993 zur allgemeinen Lynchjustiz, zur “endgültigen Ausschaltung der politischen Gegner” aufrief. So hieß es darin: „Wir werden es hier tunlichst vermeiden, zur Gewalt im Sinne von Körperverletzungen, Tötungen usw. gegenüber unseren Gegnern aufzurufen. Jeder von uns muß selbst wissen, wie er mit den ihm hier zugänglich gemachten Daten umgeht. Wir hoffen nur, ihr geht damit um!!!“
Seit jener Zeit verfolgen die Nazis in Deutschland das Ziel, mit Terror das Land zu destabilisieren und zur Erhebung für die “deutsche nationale Identität” zu führen, um es “national zu befreien”. Ausländer und „Ausländerfreunde” sollen aus dem Land getrieben oder „ausgeschaltet” werden. Diese Liste behalte „für Jahre Aktualität“, verliere mit der Zeit nicht an Brisanz.“ Die Schrift „Einblick“ sollte nicht nur die darin genannten Menschen angreifen. In heutigen „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ müsse man „dementsprechend handeln“ und alle Gegner „mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln bestrafen“, hieß es. (Zitate aus Einblick, Drohliste der Anti-Antifa, 1993) Und mit den „zur Verfügung stehenden Mitteln“ schlug dann der „Nationalsozialistische Untergrund“ NSU zu. Als Autoren dieser Schrift wurden dieselben erkannt, die jahrelang als Anmelder von Naziaufmärschen fungieren durften.
Nach dieser Drohliste handelten die von der faschistischen Anti-Antifa Angeleiteten, so auch der NSU. Ihrer Lynchjustiz fielen nicht nur die zehn NSU-Opfer, sondern auch bis zu 200 weitere Menschen anheim. Leser der antifa haben diese Liste erneut der Polizei übergeben, sie war dort nicht mehr bekannt. Es wird eben zu viel zerschreddert. Bei den in der Liste genannten Personen, darunter auch diese Leser, wird immer wieder – bis in diese Tage – Bedrohliches ans Haus angeschrieben. „Kommt Zeit kommt Rat kommt Attentat“ oder „Buchenwald vergisst nicht“ oder „Du Jude“, heißt es in Emails und Schmierereien.
Am Tag der Urteilsverkündung zogen wir durch die Städte, um zu verlangen: Es soll das ganze NSU-Netzwerk zerschlagen werden; der Verfassungsschutz, der dem NSU half, ist abzuschaffen. Wir verlangen Schutz für jene, die nun von den durch das milde Urteil von München ermutigten Nazis bedroht werden. Dieser Schutz ist nach der Haftentlassung der Wohlleben und Co. Dringender denn je.
Dokumentiert aus Frankfurter Rundschau vom 3. 12. 93
Neonazis rufen zur „endgültigen Ausschaltung” von Gegnern auf / Druckschrift nennt 250 Menschen, die „bestraft” werden sollen / Bundesanwaltschaft zögerte, die Ermittlungen zu übernehmen
KARLSRUHE, 2. Dezember. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe ermittelt gegen eine unbekannte kriminelle Vereinigung von Neonazis, die eine Broschüre mit dem Titel „Einblick – Die Nationalistische Widerstandszeitschrift gegen zunehmenden Rotfront- u. Anarchoterror“ verbreiten. In der rund 50 Seiten umfassenden Broschüre werden nach Angaben des ARD-Fernsehmagazins „Panorama“ vom Donnerstag die Namen, Anschriften und Autokennzeichen von etwa 250 Personen genannt.
(…) In ihr werde zur „endgültigen Zerschlagung“ und „Ausschaltung aller … antideutschen … Kräfte“ aufgerufen.
(…) Die Existenz der Broschüre war bereits seit Freitag vergangener Woche in Karlsruhe bekannt. Die Behörde bejahte aber erst am Mittwoch ihre Zuständigkeit, da erst dann von einer kriminellen Vereinigung und einem Fall von besonderer Bedeutung ausgegangen wurde. (…)
Trotz der im Broschüren-Text als „tunlichst vermieden“ verbrämten Aufforderung zu Tötung und Körperverletzung geht die Bundesanwaltschaft bisher nicht von der Existenz einer terroristischen Vereinigung (nach Paragraph 219a) aus. Nach dem Gesetz ist der Tatbestand der Gründung einer terroristischen Vereinigung jedoch erfüllt, wenn deren Zweck oder Tätigkeit auf Mord oder Totschlag gerichtet ist. Offenbar nimmt die Bundesanwaltschaft die Formulierung, daß die Autoren die Aufforderung zu Gewalttaten „tunlichst vermeiden“, beim Wort. (…) Ein Sprecher des Bundesamtes für Verfassungsschutz bezeichnete, wie die Deutsche Presse-Agentur meldete, die systematische Auflistung von Personen als „Aufforderung zur Gewalt“. Durch die Liste sei „ein Stück mehr Militanz“ in der rechtsextremen Szene und „terroristische Ansätze sichtbar“ geworden.
Bedrohter Jugendlicher versteckt sich
AURICH (dpa). Um sich und seine Familie vor Neonazi-Terror zu schützen, hat ein 17 Jahre alter Schüler aus Aurich (Ostfriesland) sein Elternhaus verlassen und ist an einen geheimen Ort gezogen. Der Schüler wird nach Angaben der Polizei vom Donnerstag neben etwa 40 anderen Angehörigen der antifaschistischen Szene in Ostfriesland in der Neonazi-Broschüre „Einblick“ genannt. Körperverletzung, zerstochene Autoreifen, ein demolierter Motorroller und Hakenkreuz-Schmierereien gehörten nach Polizeiangaben zum Terror, dem der 17jährige und seine Familie schon ausgesetzt waren.