Den Steeler Jungs den Weg versperren – Wie Hagen Rether und Ester Bejarano uns Mut machten
14. April 2020
Essen, Internationaler Tag gegen Rassismus, Steeler Jungs
Stadtteil Steele im Osten von Essen. Ein lebendiges Dorf, gelegen am Ruhrufer. Verkehrstechnisch zentral, weil mit S-Bahn, Tram und Bus von überall her gut zu erreichen. Ein bunter Stadtteil mit kulturellen Einrichtungen wie dem Kultur- und Weiterbildungszentrum „Grend“ ( www.grend.de), dem angegliederten Theater Freudenhaus, dem Kulturforum, einer Dependance der VHS, mit Sportvereinen wie dem Steeler Ruderverein, dem Schwimmverein Steele. Ein Stadtteil mit Einzelhandelsgeschäften, in denen es alles zu kaufen gibt, was man für den täglichen Bedarf braucht, einem Bioladen, einem Reformhaus, es fehlt an nichts, es gibt alles „umme Ecke“.
In diesem schönen Stadtteil ausgerechnet versucht ein Teil der rechtsextremen Szene sich festzusetzen, die „Steeler Jungs“. Sie stammen nur zum Teil aus Steele, haben sich diesen verkehrsgünstig gelegenen Stadtteil aber als Ankerpunkt erwählt. Hier ist ihre Stammkneipe, die Sportsbar „300“, in der sie sich gern die Kante geben. Ihr Kern besteht aus Anhängern der Rocker- und der Neonaziszene, aus Hooligans, Bandidos, Türstehern. Sie patrouillieren Woche für Woche, viele in einheitlich schwarzen Sweat-Shirts mit der Aufschrift „First class crew – Steeler Jungs“, allerdings gegenwärtig ausgebremst durch die Corona-Pandemie. Bewusst verzichten sie bei ihren Aufzügen auf Transparente, Parolen und öffentliche Reden, bezeichnen sich als unpolitische „Spaziergänger“, als „besorgte Bürger“. Doch der wöchentliche Aufmarsch von bis zu 100 und mehr Rassisten schüchtert ein, schürt Ängste vor allem bei Menschen mit erkennbar migrantischem Hintergrund.
Diese braune Truppe der Steeler Jungs demonstriert, dass sie die Macht über den Stadtteil für sich beansprucht. Und mehr noch versucht sie in weiteren Essener Stadtteilen Ausländerfeinde und Rassisten zu ähnlichen „Bürgerwehren“ zu formieren und ihren Einfluss auszubauen.
Die Steeler Jungs sind vernetzt mit Gleichgesinnten anderer Städte, mit der „Bruderschaft Deutschland“ aus Düsseldorf, „Mönchengladbach steht auf e.V.“, „Bruderschaft Herne“. Sie tauschen sich aus, unterstützen sich gegenseitig. Bei einer der Aufmärsche nahm der berüchtigte SS-Sigi von der Partei Die Rechte aus Dortmund teil. In ihrer Stammkneipe der „Steeler Jungs“ werden Rechtsrockkonzerte veranstaltet.
Das antifaschistische Bündnis „Essen stellt sich quer“ hat nun Ausschnitte einer Seite dieser rassistischen Szene auf der russischen PlattformVK entdeckt und öffentlich gemacht: Hakenkreuze, Hitlerbilder, eine unverhohlene Verehrung des faschistischen Regimes.
Bei einem der führenden Köpfe der „Bruderschaft Deutschland“, mit der die Steeler Jungs eng verbunden sind, dem Düsseldorfer Ralf Nieland, wurde vor wenigen Tagen eine Hausdurchsuchung durchgeführt und zahlreiches Beweismaterial sichergestellt.
Um dem wöchentlichen Aufmarsch der Steeler Jungs durch den Stadtteil ein Ende zu bereiten, und die Menschen über den wahren Charakter der Steeler Jungs, ihre Vernetzung und die Gefahr des sich ausbreitenden Rechtsextremismus und Rassismus aufzuklären, gründete sich vor fast zwei Jahren das Bürgerbündnis „Mut machen – Steele bleibt bunt“, ein Bündnis engagierter Bürgerinnen und Bürger (www.steelebunt.de), das zu regelmäßigen Gegenaktionen gegen den braunen Spuk aufruft. Das Bündnis lenkte die Aufmerksamkeit der lokalen Politik auf das Treiben der Steeler Jungs. So verabschiedete der Rat der Stadt Essen am 29. Mai 2019 mit großer Mehrheit eine Resolution, mit der er sich gegen die „Verharmlosung und Bagatellisierung“ der sogenannten Steeler Jungs erklärt und den gegen Rechtsextremismus und Rassismus gerichteten Initiativen Unterstützung zusagt, nachdem bereits zuvor die örtlich zuständige Bezirksvertretung eine entsprechende Erklärung verabschiedet hatte.
Auch NRW-Innenminister Reul warnte vor den „brandgefährlichen“ Bürgerwehren. Leider folgen den Warnungen bisher kaum Taten.
Die Initiative „Mut machen – Steele bleibt bunt“ wird immer wieder mit Positionen konfrontiert, die diese rechte Szene verharmlost und der Initiative vorwirft, sie mit ihren Aktionen aufzuwerten und Unruhe in den Stadtteil zu tragen. Die Diskriminierung und gar Kriminalisierung von antifaschistischen Protesten durch Politiker und Medien beeinflusst auch das Klima im Stadtteil gegenüber den Protestbewegungen.
Und auch die Polizei in Essen leistete einen nicht unwesentlichen Beitrag zu dem Image des Bündnisses im Stadtteil einerseits und der Imagepflege der Steeler Jungs als harmlose besorgte Bürger andererseits, indem sie nämlich die Protestaktionen des Bündnisses „Mut machen – Steele bleibt bunt“ mit Gittern und martialisch ausstaffierten Polizeiketten absperrte, während die Steeler Jungs in lockerer Formation, begleitet durch einzelne Polizeibeamte durch den Stadtteil marschierten.
Nunmehr seit nahezu zwei Jahren veranstaltet das breite Bündnis von Steeler Bürger*innen Gegendemonstrationen und Kundgebungen, lädt zu Diskussionen, Lesungen, Bürgerversammlungen, Theatervorstellungen und weiteren kulturellen Events ein, klärt mit Flyern über die selbsternannte Bürgerwehr auf. Unterstützt wird die Steeler Initiative von Essen stellt sich quer, von Aufstehen gegen Rassismus, von Kultureinrichtungen und Vereinen, von Parteien, von lokalen Künstlern, von kirchlichen Gemeinden mit vielen Ideen, einer Vielfalt von Aktionen und Veranstaltungen.
Höhepunkt war am 8. März 2020 wenige Tage vor Beginn der Pandemie-Krise, das Konzert mit Esther Bejarano und der Microphone Mafia in der evangelischen Friedenskirche in Steele. Über 500 Besucher*innen waren gekommen, um der Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz und des Konzentrationslagers Ravensbrück zuzuhören. Mit stürmischem Beifall begleiteten sie das Konzert von Esther Bejarano und der Microphone Mafia. Dass Esther Bejarano mit ihren 95 Jahren nach Steele gekommen war, macht Mut, bestärkt den konsequenten Einsatz für ein „buntes“ Steele ohne Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung, ohne Hass und Hetze. Dafür wird noch ein langer Atem benötigt.
Internationaler Tag gegen Rassismus
Der folgende Beitrag der VVN-BdA Essen anlässlich des Internationalen Tages gegen Rassismus am 21. März 2020 ergänzt den Beitrag von Alice. Es werden darin die Künstler Hagen Rether und Ester Bejarano gewürdigt.
In seiner unnachahmlichen Art spricht Hagen Rether in den Mitternachtsspitzen von den Momenten, wo man verzagen möchte, wegen der Klimakatastrophe und wegen der Leute, die Kippas vom Kopf schlagen und Moscheen anzünden. Er spricht von Neoliberalen und Rassisten, die die Demokratie fest im Würgegriff haben, von Armen und Frauen, von Schwulen, People of colour, von Hanau und Halle, von Juden und Muslime, die bedroht, verachtet, ermordet werden. „Jetzt wählen die Leute reflexartig auch noch Faschisten“, „Es ist furchtbar“,resigniert Hagen Rether.
Und dann sieht er Holocaust-Überlebende, die seit Jahrzehnten von Schule zur Schule fahren und den Kindern, Enkeln und mittlerweile Urenkeln der Täter erklären, was damals passiert ist. Das kann man nicht hoch genug ermessen, so der Kaberettist. Eine Hommage an Menschen wie Esther Bejarano. Das Publikum unterstützte ihn mit großem Applaus. Vielen Dank, Hagen Rether.
Esther Bejarano war am 8, März, wenige Tage vor Ausrufung der Pandemie, in die Evangelische Friedenskirche nach Steele gekommen. Esther Bejarano, die dem Mädchenorchester in Auschwitz angehörte, die die Hölle des Vernichtungslagers Auschwitz, das Konzentrationslager Ravensbrück, die Zwangsarbeit bei Siemens überlebte, sie kam, 95 Jahre alt, mit der Microphone Mafia zu uns und hat uns mit ihrer Lesung und dem wunderbaren Konzert Mut gemacht. Übrigens, das von über 500 Menschen besuchte Konzert war der Essener Presse keine Zeile wert.
Esther Bejarano und die Microphone Mafia haben uns mit ihrem begeisternden Auftritt bestärkt in unserem Einsatz für ein Steele, für ein Essen ohne Rassismus, Antisemitismus, ohne Ausländerfeindlichkeit, Hass und Hetze. Die Bilder der Steeler Jungs auf der russischen Plattform VK, von Essen stellt sich quer vor einigen Tagen öffentlich gemacht, sind erschreckend: Hakenkreuze, Hitlerbilder, eine unverhohlene Verehrung des unmenschlichen, verbrecherischen faschistischen Regimes. Welche Beweise braucht es noch, um diesen braunen Spuk, um die wöchentlichen Aufmärsche der selbsternannten Bürgerwehr durch Steele endlich ein Ende zu setzen?
„Das Haus brennt und sie sperren die Feuerwehr aus, wollen Sie der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen?“ protestiert Esther Bejarano in einem Brief an Olaf Scholz gegen den Entzug der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA,. Sie ist Ehrenvorsitzende der 1947 von überlebenden Verfolgten des Naziregimes gegründeten Vereinigung, die unablässig konsequenten Widerstand gegen Nazis und Neonazis leistet.
„Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren.“ Esther Bejarano fordert daher, dass der 8. Mai, der Tag der Niederschlagung des NS-Regimes, ein Feiertag wird. „Das würde helfen, zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war“, wendet sich Esther Bejarano in einem Schreiben an Bundespräsident und Bundeskanzlerin.
Die NATO jedoch hatte anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus ihr größtes Manöver an der Grenze zu Russland mit 37000 Soldaten geplant Eine unglaubliche Provokation gegenüber einem Land, das mit 27 Millionen Toten die größten Opfer im Zweiten Weltkrieg erlitten und deren Rote Armee den massivsten Widerstand gegen die faschistische Wehrmacht geleistet hat. Corona hat der NATO einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sorgen wir dafür, dass dieses Manöver nicht nur verschoben, sondern endgültig eingestellt wird.
Stürmischer Beifall gab es auf dem Konzert in Steele, als auf der Bühne das Transparent ausgerollte wurde: „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!“