Unabhängige Kommission muss Tod eines 16 Jährigen untersuchen!

4. September 2022

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Am 8. August haben es in der Dortmunder Nordstadt elf Polizistinnen und Polizisten nicht vermocht, den 16jährigen, aus dem Senegal stammenden Jungen Mouhamed Lamin Dramé, der ein Messer bei sich hatte, zu beruhigen und zu entwaffnen. Sie griffen ihn mit Pfefferspray, Tasern und schließlich mit einer Maschinenpistole an, töteten Mouhamed Lamin Dramé mit einer Salve von fünf Schüssen.

„Du sollst nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“, so der Volksmund. Und jetzt schießen Polizisten mit einer Maschinenpistole auf ein schwarzes Kind und töten es. Sie sagen: Der Junge ging mit einem Messer auf uns los. Mouhamed Lamin Dramé stand im Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung, und zwischen den Polizisten und ihm befand sich ein Zaun. Er konnte gar nicht auf den Schützen zulaufen. Und wenn doch? Dann schießt man und erklärt: Wir prüfen das alles genau und melden uns in einigen Wochen wieder, so der Staatsanwalt.

In den letzten fünf Jahren wurden elf Flüchtlinge von der Polizei erschossen. Das geht aus der Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ der Antirassistischen initiative (ARI) hervor.

Jeder Todesfall in Zusammenhang mit staatlichen Behörden sollte bis ins kleinste Detail untersucht werden. Nicht nur, um einen möglichen Vorsatz nachzuweisen, sondern auch, um sämtliche Fälle von rechtswidrigen Ingewahrsamnahmen, von Fahrlässigkeit oder unangemessenen Reaktionsketten zu verbessern – um künftige Todesfälle zu vermeiden. In jeder anderen Situation, etwa bei Betriebsunfällen, ist das Standard – nicht, wenn staatliche Bedienstete beteiligt sind. Warum? Festzustellen ist, dass es keinen Willen zur Transparenz, keinen Aufklärungswillen und erst recht keinen Willen zur Verbesserung gibt. Im Gegenteil: es wird verharmlost, vertuscht und gelogen.

Die VVN-BdA Nordrhein-Westfalen fordert unabhängige Ermittlungsstellen.

Deutschland käme damit zumindest lange angemahnten Menschenrechtsstandards nach. Laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen Ermittlungen, die Verletzungen in Polizeigewahrsam untersuchen, unabhängig, angemessen und unverzüglich geführt werden. Sie sollen öffentlicher Kontrolle unterliegen und Opfer und Angehörige einbeziehen. Keine dieser Vorgaben wird aktuell eingehalten.

Einige Bundesländer haben in den letzten Jahren vom Landtag berufene Polizeibeauftragte eingesetzt. Der Bund will laut Ampelkoalitionsvertrag nachziehen. Doch die Hoffnung, damit ließe sich auch adäquat auf Todesfälle in Gewahrsam reagieren, ist naiv. Keine der Stellen wurde explizit eingerichtet, um solche Fälle aufzuklären. Vielmehr sollen sie laut Gesetz den „Dialog zwischen Polizei und Bürger*innen“ fördern. Die bisherigen Stellen sind zudem prekär ausgestattet, haben keine eigenen Ermittlungsbefugnisse und sind in ihrer institutionellen Verankerung weit entfernt von zivilgesellschaftlichen Akteuren, insbesondere von stark betroffenen Gruppen wie Asylsuchenden, Personen mit Migrationshintergrund, Obdachlosen und Menschen in psychischen Ausnahmesituationen.

Die VVN-BdA Nordrhein-Westfalen fordert eine Untersuchung des Dortmunder Falles durch eine unabhängige Kommission und nicht durch die Polizei – aus welcher Stadt auch immer. Sie verlangt im Interesse einer umfassenden Ermittlung die Einsicht in die vollständigen Akten der Polizei über die Staatsanwaltschaft bis zum Innenministerium.

Dringende Forderungen und Fragen

Warum wurde, obwohl sich eine Eingriffssituation anbahnte, nicht jede Möglichkeit genutzt diese umfassend zu dokumentieren?
§15c des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen regelt den Einsatz von Aufnahmegeräten (Bodycams). Der Einsatz dieser Geräte wird von den jeweiligen Vollzugsbeamtinnen/ -beamten vor Ort entschieden. Obwohl bei diesem Einsatz von Beginn an wahrscheinlich war, dass unmittelbarer Zwang erfolgen musste, wurde die Situation nicht umfassend dokumentiert. Die Bodycams müssen bei Außeneinsätzen in der beschriebenen Situation eingeschaltet sein.
Warum waren die bei Außeneinsätzen üblichen Bodycams nicht eingeschaltet?
Wann und wie lange Aufzeichnungen gespeichert werden, richtet sich nach den allgemeinen Datenschutzregeln. Derzeit regelt das Polizeigesetz jedoch, dass Aufnahmen nach Belieben vom Polizeibeamten oder auch wenn es vom Vorgesetzten befohlen wird, gelöscht werden können.
Alle Bodycams, die am 8. August in Dortmund vor Ort eingesetzt wurden, müssen sichergestellt werden. Ebenso müssen alle Aufzeichnungen gesichert werden, die im Zusammenhang mit Einsatzfahrzeugen und Drohnen entstanden sind.
Warum konnte auch durch den Einsatz von Tasern die Situation nicht entschärft werden?
Obwohl die Gefährlichkeit der Tasereinsätze bekannt war, wurden dennoch für 8,5 Mio. Euro 1.360 Taser angeschafft. Das entspricht einem Stückpreis von 6.250 Euro. Der fehlerhafte Einsatz führte hier zu einem weiteren Toten. Es wird Zeit sie wieder abzuschaffen.
Warum kam eine Maschinenpistole zum Einsatz?
Die Polizei wurde in den letzten Jahren massiv aufgerüstet. Nicht zuletzt die Ausstattung mit zwei Maschinenpistolen in jedem Funkstreifenwagen weisen darauf hin. Das Maschinenpistolenfeuer zum normalen Polizeieinsatz werden soll, kann nicht hingenommen werden. Der Innenminister hat zu verantworten, dass Maschinenpistolen, nicht wie beabsichtigt, als Mittel der Terrorabwehr zum Einsatz kommen, sondern als normales polizeiliches Mittel dienen. Dies widerspricht allen jahrzehntelangen Bemühungen um eine Kultur der Deeskalation polizeilichen Handelns.
Warum wird nur standardmäßig ermittelt wegen Körperverletzung im Amt mit Todesfolge?
Die Ermittlungen werden auf eine Wahl zwischen Nothilfe und Notwehr konzentriert. Dies widerspricht der Forderung nach einer unvoreingenommenen und offenen Untersuchung.
Die Ermittlungen werden durch eine Mordkommission der Kreispolizeibehörde Recklinghausen geführt. Nachbarbehörden, die gegeneinander ermitteln, die auch noch demselben Generalstaatsanwalt unterstehen sind keine neutrale Ermittlungsinstanz.
Warum gibt es keine Unabhängige Untersuchungsbehörde?
Wie in einigen Nachbarländern, muss eine umfassend ausgestattet Unabhängige Untersuchungsbehörde aufgebaut werden. Sie muss sich aus Teilen der Demokratie- Menschenrechtsverbänden zusammensetzen und umfassend rechtlich, personell, materiell ausgestattet sein. Damit sollen unabhängige Ermittlungen auch in solchen Fällen, wie dem Vorliegenden schnell und umfassend gewährleistet sein.

VVN-BdA Nordrhein-Westfalen fordert die Einsicht in die vollständigen Akten.
Zur Wahrung des Öffentlichen Interesses an einer umfassenden Ermittlung fordert die VVN-BdA Nordrhein-Westfalen die Einsicht in die vollständigen Akten von der Polizei über die Staatsanwaltschaft bis zum Innenministerium.

Nachtrag: MONITOR-Bericht vom 15.09.2022 „Tödliche Polizeischüsse: Polizisten außer Kontrolle? (hier).