22. September 2018
13. Runder Tisch der Friedensbewegung und Die Linke im Bundestag am 14.9.2018
Lühr Henken, Bundesauschuss Friedensratschlag, Sprecher
Seit November 1945 wurde die Sowjetunion von den USA, seit 1949 von der NATO, mit einem Atomkrieg bedroht. Die US-Aufrüstung fußte auf Lügen. Obwohl die USA es besser wussten, wurde Moskau eine Angriffsabsicht unterstellt1. Die UdSSR wurde so in ein atomares Wettrüsten gezwungen, das sie verlor.
Das Versprechen vom „Ende des Kalten Krieges“ aus der Charta von Paris 1990 wurde nicht eingelöst.
Statt sich aufzulösen – wie der Warschauer Pakt – rückte die NATO Schritt für Schritt näher an die russische Westgrenze heran, mit der Absicht, nach und nach Ex-Sowjetrepubliken bis hin zur Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu lösen und in den Westen einzugliedern.2
Einseitige US-Maßnahmen bringen Säulen der internationalen Sicherheit ins Wanken.
Erstens: Die flagranten Brüche der UN-Charta durch USA und NATO mit ihren Kriegen gegen Jugoslawien 1999 und den Irak 2003. Sie stellen das Recht des Stärkeren über das internationale Recht.
Zweitens: Der US-Militärplan einer „Full Spectrum Dominance“ aus dem Jahr 2000, der vorsieht, bis 2020 eine umfassende militärische Überlegenheit zu Wasser, zu Lande, in der Luft, im Welt- und im Cyberraum zu erreichen.
Drittens: Die Auflösung des Vertrags über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM) durch George W. Bush 2002. Die Kündigung des ABM-Vertrages gefährdet tendenziell die strategische Zweitschlagkapazität Russlands, insbesondere dann, wenn es eine vereinbarte Obergrenze für strategische Atomsprengköpfe und ihre Trägersysteme gibt. Das ist mit dem New Start-Vertrag der Fall.
Viertens: Seit 2006 verfolgen die USA das Ziel mittels eines Sofortschlags innerhalb einer Stunde jeden Ort der Erde treffen zu können. Dieser „Prompt Global Strike“ verschafft ihnen ein weltweites Erpressungspotenzial, was die Stärke des Rechts untergräbt.
Russland sieht seine Kerninteressen durch den Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe, der NATOResponse-Force, und durch US-Stützpunkte in Bulgarien und Rumänien gefährdet. Durch das NATOAngebot aus dem Jahr 2008, die Ukraine und Georgien aufzunehmen, fühlt es sich ernsthaft bedroht.
Mit dem Staatsstreich in der Ukraine 2014 drohte das Land als Pufferstaat zwischen NATO und Russland verloren zu gehen. Russland befürchtete, seinen Marinestützpunkt auf der Krim an die NATO zu verlieren. Seitdem betreibt Moskau eine Destabilisierung der Ukraine, um sie von einer Eingliederung in den Westverbund abzubringen.
Der NATO-Beschluss vom September 2014, wonach die europäischen NATO-Staaten und Kanada bis 2024 möglichst zwei Prozent, statt wie damals durchschnittlich 1,4 Prozent3, ihrer Wirtschaftsleistung für das Militär ausgeben sollen, verändert das ohnehin sehr schiefe Kräfteverhältnis bei den konventionellen Waffen zwischen Russland und der NATO weiter zu Gunsten der NATO. An dieser Stelle komme ich nicht um die Nennung von mehreren Zahlen herum, um die Schieflage zu dokumentieren. Die NATO verfügt mit knapp 3,5 Mio. Soldaten über das 4,4 fache Russlands, die NATO hat 25 Prozent mehr Kampfpanzer, sie hat das 2,8 fache an Kampfhubschraubern, das Vierfache an Erdkampf- und Kampfflugzeugen. Die NATO hat das 2,7 fache an Zerstörern, Fregatten und Korvetten und das 2,6 fache an U-Booten. Nur in einer einzigen Kategorie schwerer Waffen hat Russland mehr als die NATO: Es hat 8 Prozent mehr Artilleriesysteme.4 Beim Vergleich der Militärausgaben wird der Unterschied wohl am deutlichsten. Die NATO schätzt, dass sich ihre Militärausgaben in diesem Jahr zusammen auf 1.013 Milliarden Dollar5 belaufen werden. SIPRI gibt die russischen Militärausgaben für 2017 mit 66,3 Milliarden Dollar an. Russland hatte sie auf 2017 um 20 Prozent gesenkt.
Im konventionellen Bereich kann Russland nicht aufholen. Russland versucht diese Unterlegenheit durch taktische Atomwaffen auszugleichen, die im europäischen Teil lagern. Die Umsetzung des Zwei-Prozent-Ziels erschwert eine Abrüstung der ca. 2.000 taktischen Atomsprengköpfe Russlands.6
Zunehmende NATO-Manövertätigkeit von Norwegen, über die Ostsee, dem Baltikum und Polen bis hinunter zum Schwarzen Meer und der Ausbau Deutschlands zur logistischen Drehschreibe und zum Truppenaufmarschgebiet provoziert russische Militärübungen. Dadurch erhöhen sich nicht nur die Spannungen, sondern auch die Gefahr eines Krieges aus Versehen.
Einen Lösungsansatz und einen für mich überraschenden Beleg für die bestehende Brisanz fand ich in der FAZ vom 12.4.18. Unter der Überschrift „Dialog statt Eskalation“ schreiben Edmund Stoiber, Horst Teltschik, Günter Verheugen und Antje Vollmer:
„Worauf es in erster Linie ankommt, ist die Überwindung der Sprachlosigkeit. Über alle Konfliktpunkte und Streitpunkte mit Russland muss offen geredet werden, ohne Vorbedingungen und Drohungen. Wir sollten eine Politik entwickeln, die sich ausschließlich am internationalen Recht und an der gemeinsamen Verantwortung für das Schicksal der gesamten Menschheit ausrichtet. Deutschland und die EU sollten dazu die Initiative ergreifen. Die Idee einer gesamteuropäischen Partnerschaft ist zwar nicht neu, aber wartet auf Verwirklichung. Das ist das richtige und große außenpolitische Thema dieser Legislaturperiode. Wer das nicht sehen will, ist blind für die Gefahr
eines dritten und letzten Weltkrieges.“7
1 Vgl. Jürgen Bruhn, Der Kalte Krieg oder: Die Totrüstung der Sowjetunion. Der US-militär-industrielle Komplex und seine
Bedrohung durch Frieden, Gießen 1995, 263 Seiten,
2 Vgl. Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 1997, 311 Seiten
3 Defence expenditure of NATO Countries (2011 – 2018), NATO Press Release 10.7.2018. 15 Seiten,
https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2018_07/20180709_180710-pr2018-91-en.pdf
4 Welt am Abgrund? Der Münchner Sicherheitsbericht, Deutsche Welle, 8.2.18, http://www.dw.com/de/welt-am-abgrundder-
münchner-sicherheitsbericht/a-42482455
5 Siehe Fußnote 3
6 http://bos.sagepub.com/content/early/2015/04/13/0096340215581363.full.pdf+html , S. 2
7 FAZ 12.4.2018, Helmut Schäfer (Staatsminister im Auswärtigen Amt 1987 – 1998), Edmund Stoiber (bayrischer
Ministerpräsident (1993-2007), Horst Teltschik (Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz 1999-2008), Günter
Verheugen (EU-Kommissar 1999-2010), Antje Vollmer(Vizepräsidentin des Bundestages 1994-2005), Dialog statt Eskalation